Stumm, aber mit geschärften Sinnen

Der Roman spielt im 18. Jahrhundert auf der Insel Sizilien. Die Herzogin Marianna Ucrìa, der es im frühen Kindesalter Gehör und Sprache verschlagen hat, wird im Alter von 13 Jahren mit ihrem mehr als 30 Jahre älteren Onkel verheiratet. Denn wer würde eine Frau mit so einer Behinderung sonst nehmen?

Wie allen Frauen ihrer Zeit wird Marianna ihr Wirkungskreis durch ihren Stand und männliche Vormunde vorgegeben. Die wichtigsten Aufgaben wohl: dem Ehemann nicht widersprechen und männliche Nachkommen gebären.

Doch Marianna liest mehr als andere Frauen, da sie ist von Unterhaltungen ausgeschlossen ist, wenn ihr niemand Zettelchen schreibt.

Jede Tür öffnet sich für sie wie eine Falle. Aber sie erkennt mehr, als sie hört und spricht: den Charakter der Geschwister, der eigenen Kinder, ihres Personals oder der gewöhnlichen Leute. Die Autorin Dacia Maraini ist selbst eine Nachfahrin des historisch mächtigen Ucrìa-Clans. Sie nähert sich der entfernten Familiengeschichte mit der nötigen Distanz und Liebe zum Detail. Sie stellt die Sinneswelt der Herzogin in die Auslage, ihre geschärften optischen und olfaktorischen Eindrücke und die Fähigkeit, Gedanken zu lesen.

Trotz des langen Lebens der Dame gibt es in diesem Roman keine Längen. Gekonnt spult Maraini in der Lebensgeschichte vor und zurück. Sie vermeidet Kitsch-Fallen und Happy End-Weichen und zeigt stattdessen, wie die Herzogin Freiheiten in ihrer vermeintlichen Einschränkungen findet und durchsetzt. Der Folio Verlag legt „Die stumme Herzogin“ in einer aktualisierten Übersetzung vor. Die abgebildete Dame auf dem Cover ist jedoch Lucrezia Panciatichi.


Die stumme Herzogin
von Dacia Maraini
Folio Verlag 2020
363 Seiten
24 Euro


Beitragsbild: © Mauro Raffini

Astrid ist Wienerin, Working Mum, Wählerin, wählerisch, mag Menschen, Worte und Wale.

Leave a comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert