Wer die Stimme erhebt, wird Sturm ernten

Die meisten Menschen wissen genau, wann, wo und wie sie vom Attentat auf die Twin Towers erfahren haben. Für Jessica Durlacher ist 9_11 nur der Auftakt ihres Romans „Die Stimme“.

Sie nimmt uns mit in die Lebenswelt des niederländischen Paars Bor und Zelda mit ihren Kindern Sam, Pol und Philip.

Die beiden geben sich im Urlaub in New York spontan das Jawort auf der Terrasse des Rabbi, als die Flugzeuge ins World Trade Center krachen.

Die darauffolgende Flucht durch Manhattan besteht die Familie glimpflich, aber ihr Weltbild ist erschüttert. Zurück zu Hause wollen sie weiterhin alles richtig machen, sich richtig verhalten, der eigenen Geschichte gerecht werden, sich für die richtige Seite engagieren, Vorurteilen nicht einfach nachgeben.

Die Erzählstimme im Buch gehört Zelda, Psychoanalytikerin, Jüdin und dreifache Mutter. Sie führt den üblichen Kampf arbeitender Mütter zwischen Fürsorge und Selbstbehauptung. Es ist großes Kino, ihren Gedanken zuzuhören, zu lesen, wie sie ihren Handlungsspielraum auslotet – und dabei zwischen dem Bedürfnis, in den Arm genommen zu werden,  auf die Schulter geklopft oder zumindest zugenickt zu bekommen, schwankt.

Als Unterstützung engagiert Zelda schließlich aus dem Flüchtlingsheim vor Ort die Somalierin Amal. Als diese in der TV-Castingshow „The Voice“ ihre phänomenale Sing-Stimme erhebt und zusätzlich Abaya und Kopftuch abnimmt, geraten Amal und ihre neue Familie ins Kreuzfeuer von Glaubenskämpfen. Sicherheit, Selbstschutz, Ideologie, Ressourcen und gut gehütete Familiengeheimnisse verweben sich zu einer soghaften Erzählung. Ein Happy End ist nicht in Sicht, aber jede Seite dieses Romans ist es wert, gelesen zu werden.


Die Stimme
von Jessica Durlacher
Diogenes
495 Seiten
25,70  Euro


Beitragsfoto: © Billie Glaser

Astrid ist Wienerin, Working Mum, Wählerin, wählerisch, mag Menschen, Worte und Wale.

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