Biografie einer unterschätzten Hausfrau

Lina Morgenstern wurde zu einer Zeit in Breslau und Berlin gesellschaftlich aktiv, als es noch kein Wahlrecht für Frauen gab, keinen Universitätszugang, kein Gymnasium und keine Möglichkeit ein Geschäft oder einen Verein zu führen, sich zu versammeln oder zu diskutieren.

Dennoch gründete die fünffache Mutter zwischen 1870 und 1900 mehrere Vereine und Start-ups. Sie war als Verlegerin, Autorin, Schulgründerin, Friedensstifterin und Kongressorganisatorin aktiv. Gerhard J. Rekel legt bei Kremayr & Scheriau Die Geschichte einer Rebellin vor, die in sprechenden Episoden Lina Morgensterns Aufwachsen, Leben, Krisen und Wirken beleuchtet.

Liebevoll illustriert ist die Biografie der „Gründerin der Volksküchen“ und des „Pfennigvereins“ mit Gemüse aller Art. Eine packende Lektüre für alle, die sich für Frauengeschichte und Emanzipation interessieren. Seite für Seite möchte sich die Leserin ein Scheibchen abschneiden von dieser nimmermüden Wohltäterin, die sich immer wieder an den eigenen Haaren aus dem Morast ziehen musste, weil auch die Freundschaft zu einer Königin nicht alles bewirkt. Definitiv war Lina Morgenstern kein Hausmütterchen, Couchpotato oder Zierdeckchen-Zupferin.

Vorgesehen war für sie als Frau des 19. Jahrhunderts, einen Mann zu finden, der für sie sorgt und entscheidet, den Haushalt zu führen, zu gebären und es zu überleben. Und Lina Morgenstern fand sich einen Ehemann, vielmehr noch einen Gefährten und Unterstützer, setzte eine Liebesheirat durch und dachte nicht daran, die Hände im Angesicht von Hunger, Tod und Not in den Schoß zu legen. Als Jüdin, Aktivistin und Bürgerliche wurde sie zeitlebens von mehreren Seiten angegriffen und diffamiert – obwohl und weil sie sich für weniger Privilegierte einsetzte und alle heißen gesellschaftlichen Eisen ihrer Zeit ansprach.

Die Sozialistin Clara Zetkin war eine erklärte Gegnerin, weil Morgenstern mit einem Hausfrauenverein voller Mitstreiterinnen Reformen statt Revolution anstrebte. Mit ihrer unaufgeregten, hartnäckigen und zupackenden Art versorgte diese Person über Jahrzehnte, unter Einsatz von persönlichem Vermögen, Ansehen und Gesundheit, ledige Mütter, illegale Prostituierte, verwundete Soldaten und hungernde Arbeiter:innen.

Die letzten 20 Seiten der Biografie fassen das Leben kompakt, in einer ausführlichen Zeittafel und mit übersichtlichen Listen der von Lina Morgenstern gegründeten Vereine, Unternehmen, den Bildungseinrichtungen und Büchern. Beim Zuklappen bleibt der Mund offenstehen.


Lina Morgenstern. Die Geschichte einer Rebellin
von Gerhard J. Rekel
Kremayr & Scheriau
259 Seiten
26,95 Euro


Beitragsbild © Ingrid Goetz

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