Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten

Kennern galt der britisch-tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah längst als eine der wichtigsten literarischen Stimmen der Gegenwart. Doch die meisten seiner Bücher waren nicht mehr verfügbar, frühere Ausgabe längst vergriffen.

Das änderte sich im Oktober 2021 schlagartig mit der Ankündigung des Literatur-Nobelpreises.

In Windeseile bemühten sich große Verlage um die Rechte an Gurnahs Werk. Den Zuschlag bekam der Penguin Verlag. Dort erschien der Roman „Das verlorene Paradies“ erneut, in einer um ein Glossar erweiterten Ausgabe.

Der 1948 im Sultanat Sansibar – dem heutigen Tansania – geborene Abdulrazak Gurnah spielt gleich im ersten Satz seines Romans „Das verlorene Paradies“ mit der biblischen Schöpfungsgeschichte: „The boy first“, denn so beginnt auch das 1. Buch Mose, Kapitel 2, wenn „Gott, der Herr“ aus einem Erdklumpen zunächst Adam schafft: „Erst der Junge. Sein Name war Yusuf, und in seinem zwölften Jahr verließ er ganz überraschend sein Zuhause. Er erinnerte sich, es war die Zeit der Dürre, in der ein Tag war wie der andere. Unvermutete Blumen blühten auf und welkten. Seltsame Insekten flüchteten aus ihrem Versteck unter Felsbrocken und wanden und krümmten sich in dem glühend heißen Licht, bis sie starben. Die Sonne ließ Bäume in der Ferne zittern und die Häuser leicht schwanken und nach Atem ringen.“

Freilich verlässt Yusuf sein Zuhause nicht freiwillig, aber dennoch mit einer gewissen Ergebenheit. Der „Onkel“, ein erfolgreicher Kaufmann, nimmt ihn eines Tages ohne Vorankündigung mit. Erst später erfährt er, dass sich sein schwer verschuldeter Vater mit ihm freigekauft hatte. Das verlorene Paradies spielt im arabisch kolonisierten Sansibar des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als die kulturelle und administrative Macht von den jahrhundertelang dominanten Arabern von Europäern übernommen wurde.

Davon hat aber Yusuf mehr Ahnung als Wissen. Er ist ein naiver Junge, der unter ärmlichen Bedingungen in einem kleinen Kaff aufwächst, wo sein erfolgloser Vater ein winziges Hotel mit vier Betten betreibt. Die Geschäfte laufen schlecht, permanent hat Yusuf Hunger und „wenn er nach etwas zu essen quengelte, sagte seine Mutter, er solle die Würmer essen. ‚Iss Holzwürmer’, schlug sie vor und lachte dann über den übertriebenen Ausdruck entsetzten Ekels auf seinem Gesicht. ‚Na los, stopf dich damit voll, wann immer du Lust hast. Nur zu‘.“

Yusuf, benannt nach dem gleichnamigen Koran-Propheten – in der Bibel ist er der träumende, von seinen Brüdern verstoßenen Josef – widerfährt ein furchtbares Unglück: er wird aus dem Paradies vertrieben und muss beim reichen, arabischen Gläubiger schuften. Doch er bleibt trotz seiner beklagenswerten Lage heiter gestimmt, freundlich, geradezu rührend in seiner Naivität, pflichtbewusst in der Umsetzung absurder Anweisungen. Er lernt dort einen neuen Freund kennen und erfährt am eigenen Leib, dass die Welt im Wandel und das Paradies sehr fern sein muss, gleichgültig, ob damit das Paradies aus der Bibel gemeint ist oder der siebte Himmel aus dem Koran mit dem Garten Eden.

In der Geschichte wird die Welt komplex dargestellt, erzählt wird mit offenherziger Lust und zwar auf sehr britische Weise. Seit Ende der 1960er Jahre lebt Abdulrazak Gurnah in Großbritannien, wo er als Literaturprofessor gearbeitet hat. Vielleicht macht dieser Umstand das Buch so angenehm zu lesen. Man kennt vielleicht nicht alle Speisen und Ausdrücke, kann nicht jedes beschriebene Kleidungsstück zuordnen, dennoch entsteht kein Gefühl von Exotismus. Vielmehr gehen die Figuren wie Fremde durch ihr Leben, schwankend, ohne Halt – und ohne Aussicht auf ein Paradies. Mittendrin Yusuf, der Protagonist, mit dem MadameWien im Verlauf der Geschichte von Erstaunen über Schutzbedürfnis bis Sympathie einige Phasen durchläuft.

Ausgezeichnet wurde dieser bemerkenswerte Autor laut Nobelpreis-Komitee „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten.“ Ein wunderbares und schön zu lesendes Stück, ein Paradestück an unterhaltsamem und aufrichtigem Humanismus.

 

Das verlorene Paradis
von Abdulrazak Gurnah
Penguin, München
336 Seiten
25 Euro

 

Beitragsbild: © Mark Pringle

Nini schreibt, fotografiert und bloggt digital.
Mag aber auch analog noch immer.

Leave a comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert