Einsame Tode beschäftigen mich

Milena Michiko Flašar fotografiert von Nini Tschavoll

Name: Milena Michiko Flašar, geboren 1980 in St. Pölten, von Beruf Autorin, lebt in Wien Währing


Kodokushi ist das Wort, das die Aufmerksamkeit von Milena Michiko Flašar erregte. Es ist japanisch und beschreibt Todesfälle von vereinsamten Menschen, deren Ableben oft erst nach langer Zeit bemerkt wird. Im deutschsprachigen Raum spricht man weniger klingend von „Fundleichen“, wenn menschliche Überreste einige Zeit unentdeckt geblieben sind.

Milena Michiko Flašar schrieb schon in früheren Romanen von Menschen, die am Rande stehen, keinen Kontakt zur Mitte der Gesellschaft haben. Außenseiter:innen sind meist auch im Sterben einsam. Werden solche Fälle bekannt, tauchen Fragen auf. Warum ist es soweit gekommen? Was für ein Leben lebte die Person vor ihrem Tod? „Ich wollte dazu eine Geschichte schreiben, das Thema Einsamkeit beschäftigte mich“, erzählt Milena.

Kurz nach dem Erscheinen des Romans wurde im Jänner 2023 im niederösterreichischen Bezirk Hollabrunn der bereits stark verweste Körper eines 62 jährigen Mannes gefunden, eineinhalb Jahre hatte ihn niemand vermisst. „Das Netzwerk einer solchen Person muss große Lücken haben“, meint die Autorin. Wenn sie das Phänomen aus österreichischer Sicht der Situation in Japan gegenüberstellt, kann sie keine großen Unterschiede erkennen. „In Japan ist man vielleicht noch mehr darauf bedacht, die Harmonie zwischen Individuum und Gruppe bzw. das öffentliche Gesicht zu wahren. Das Ansehen zu verlieren, ist mit großer Scham verbunden. Ansonsten jedoch sind die Gründe für einen einsamen Tod hier wie dort dieselben. Einsamkeit hat keine Nationalität.“

In ihrem neuen Roman Oben Erde unten Himmel erzählt Milena Michiko Flašar die Geschichte der jungen Einzelgängerin Suzu. Als Kellnerin in einem Familienrestaurant finden Kollegen und der Chef sie unangenehm soziophob, sie wird gekündigt. Daraufhin heuert sie bei einer Reinigungsfirma an. Als Suzu feststellt, dass es sich um eine Leichenfundortreinigungsfirma handelt, ist sie erst irritiert, lässt sich aber mangels Alternativen auf den Job ein. Der neue Chef Herr Sakai wird bald zu einer Art Mentor. Er ist der Gegenpol zu Suzu, die still steht in ihrer Unwilligkeit, sich auf Menschen einzulassen.

Erst als sie eines Tages zu einem kranken Kollegen geschickt wird, der ihre Hilfe benötigt, beginnt sie sich langsam zu öffnen. Der Grundtenor des Romans, Vereinsamung und Isolation, ist ein ernstes und sozialkritisches Thema. Dennoch entbehrt die Handlung nicht einer gewissen Leichtigkeit. Das liegt am humorvollen Unterton von Flašar, die so gegen die reale soziale Kälte anschreibt. „Der Ansicht, dass man über das Zugehen auf jemand anderen zu einer besseren Version von sich findet, kann ich viel abgewinnen“, meint Milena. „Der bekannte japanische Dichter Miyazawa Kenji schrieb noch auf seinem Totenbett davon, bis zum letzten Atemzug zu einem besseren Menschen werden zu wollen. Ich finde das ist ein schöner Gedanke.“

Milena Michiko Flašar selbst ist gerne allein, sie braucht Zeit um nachzudenken. Um diese Ruhe und die nötige Konzentration finden zu können, geht sie täglich in einen Schreibraum unweit ihrer Wohnung. „Damit trenne ich Berufliches und Privates, das gibt meinem Arbeitsalltag Struktur“, erklärt sie. „Ich muss beim Schreiben ganz alleine sein, die Figuren in meinen Geschichten erfordern schon genug Aufmerksamkeit von mir. Sie sind alle in meinem Kopf abgespeichert, jede in einer kleinen Lade, wie in einem Ablagesystem“, lacht sie.

Ist ein Roman fertig und die Roadshow in Form von Auftritten und Lesungen abgefeiert, braucht Milena erst einmal Zeit, um Abstand zu gewinnen. „Man ist ja nach der Veröffentlichung eines Buches monatelang unterwegs, und auf einer ganz anderen Ebene tätig. Das vorige Buch ist noch frisch im Geist, alles muss sich erst einmal setzen. Tritt dann wieder Ruhe ein, kann ich mich auf die Suche nach dem nächsten Thema machen. Doch eigentlich finden die Themen eher mich. Dann dauert es immer eine ganze Weile, bis ich einen Zugang und ein Gefühl dazu gefunden habe. Erst dann beginnt die Recherche für den neuen Stoff.“

Die Mutter eines Zehnjährigen unterrichtete nach dem Studium der Germanistik und Romanistik einige Jahre Deutsch als Fremdsprache. Eines Tages entschied sie für sich, ganz Schriftstellerin sein zu wollen. „Ich habe schon als Volksschülerin viel geschrieben, die Liebe zum Schreiben war schon immer da.“ Auf die Frage, in welcher ihrer beiden Herkunftskulturen sich die Tochter einer Japanerin und eines Österreichers mehr zu Hause fühlt, mein Milena lakonisch: „Ich bin in beiden zu Hause, es ist eine eigene Mischung in meiner inneren Welt. Wenn ich Wien und Tokio vergleichen soll: Wien hat etwas angenehm Dorfartiges. Und doch ist der historische Reichtum hier unvergleichlich. Tokio ist im Gegensatz dazu eine riesige Metropole, voller Zukunft und Leben. Meine Mutter kommt ursprünglich aus Tsuyama, das ist eine Kleinstadt, im Südwesten Japans gelegen, ähnlich wie St. Pölten.

Aufgewachsen in St. Pölten war Wien nicht weit. Wann bist du in die Hauptstadt gekommen? Das war 1998 zum Studium. Ich habe erst in Favoriten gewohnt, dann in Ottakring, danach in Währing im wunderschönen Cottage-Viertel. Leider wurde nach der Geburt meines Sohnes die Wohnung dort zu klein und wir sind übersiedelt. Dem 18. Bezirk bin ich aber treu geblieben, auch wenn ich den 16. oft vermisse. Zum Glück habe ich es nicht weit zum Yppenplatz.

Was nützt du gerne in deiner Umgebung? Mit meinem Sohn bin ich oft in der städtischen Bücherei, deren Zweigstelle sich gleich nebenan befindet. Wir schätzen außerdem die vielen Parks hier, es ist sehr grün. Gerne besuche ich auch Hartliebs, eine wunderbare Buchhandlung auf der Währingerstraße.

Welche Lokale und Shops möchtest du uns ans Herz legen? In Währing mag ich das Café Stadtbahn und das Café Mocca sehr gerne. Essen gehe ich außerhalb des Bezirks gerne ins Mari´s MetchaMatcha, ein japanisches Restaurant im 7. Bezirk, das soeben erst ein neues Geschäft in der Kaiserstraße eröffnet hat. Man bekommt dort außer japanischer Hausmannkost (die wirklich wie aus Omas Küche schmeckt) schöne Keramik und Accessoires aus Japan. Einkaufen gehe ich oft bei Nippon-Ya. Und auch bei dem weniger bekannten, aber absolut empfehlenswerten Apricot Field. Das ist nicht nur ein Fachhandel für japanische Lebensmittel, dort finde ich auch immer japanische Schreibwaren, Lunchboxen und ähnliches. Japanische Nischen zu finden – egal, wo ich bin – ist ein Steckenpferd von mir.

Was ist dein liebstes Essen aus der regionalen Küche und was magst du in der japanischen besonders? Gebratene Knödel mit Ei auf der einen und Bento auf der anderen Seite. Das Tolle am Bento ist seine Vielseitigkeit, und das Arrangement – das Essen wird für gewöhnlich in einer Box serviert – hat etwas Kleinteiliges, was ich mag. Überhaupt bin ich ein Fan von Schachteln, Dosen und sonstigen Behältern. Sie haben etwas Geheimnisvolles. Was verbirgt sich darin?

Wonach schmeckt Wien? Nach einer Mischung aus vielerlei Geschmäckern, die aus den unterschiedlichsten Regionen an diesem Ort zusammengekommen sind. Ob Dürüm, Gulasch, Falafel oder eben das Schnitzel – alles zusammengenommen ergibt einen eigenen Geschmack nach Diversität.

Was ist dein Lieblingsort in der Stadt? Da gibt es mehrere, aber nur um einen herauszugreifen: Gerade jetzt im Frühling, wo alles blüht, bin ich sehr gerne im Setagaya-Park.

Was möchtest du Wien ausrichten? Zu allererst möchte ich Wien mein Dankeschön ausrichten. Dafür, dass ich hier leben und arbeiten darf. Und dann möchte ich aber auch noch eine Bitte aussprechen: Bitte, Wien, bleib weiterhin so vielfältig, wie du bist, und feiere dein besonderes Flair, das sich aus vielerlei Einflüssen, gerade von außen, speist.

 


WEB

 

Buchtipp:
Oben Erde, unten Himmel
von Milena Michiko Flašar
Verlag Klaus Wagenbach, 2023
286 Seiten
22,99 Euro

 


 

 

Nini schreibt, fotografiert und bloggt digital.
Mag aber auch analog noch immer.

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