Distanz ist wichtig, um Muster zu erkennen und sich einen Überblick zu verschaffen. Nähe ist gut, um etwas genau zu beobachten, Einzelheiten zu erkennen und mitzufühlen. Kein Wunder, dass sich Autorin Ursel Nendzig in ihrem Vorwort zur Biografie von Renée Schroeder Gedanken zu Nähe und Distanz macht.
Sie entscheidet sich für die Annäherung, schafft es aber dennoch, das Leben der Forscherin, Mutter, Großmutter, Freundin, Tochter, Rebellin, Mentorin, Atheistin, ... mit seinen vielen Wendungen und Brüchen zu einem angenehm-stringenten Lesefluss zu formen. Übrigens auch mit Hilfe von Molekülen und chemischen Prozessen. Wer hätte das gedacht?
Beim vierten gemeinsamen Buch der renommierten RNA*- Forscherin mit der leidenschaftlichen Schreiberin, nach vielen Stunden des Erzählens und Nachfragens, wäre Distanzierung wohl gar nicht mehr möglich. Nach Die Henne und das Ei (eine Suche nach dem Ursprung des Lebens), Von Menschen Zellen und Waschmaschinen (eine Anstiftung zur Rettung der Welt), Die Erfindung des Menschen (über Evolution und Erkenntnis), erscheint nun – wieder im Residenz Verlag – mit Alle Moleküle immer in Bewegung eine erste Biografie.
Wenn man das Buch gelesen hat, versteht man gleich, warum Renée Schroeder zum Vorschlag, eine Biografie zu verfassen, gesagt hat: „Wieso? Mein Leben fängt doch gerade erst an!?“. Die beschriebene Teilstrecke ist jedenfalls prall und sie macht Mut. Der erste Teil des Buches ist chronologisch angelegt, der zweite Teil vertieft Merkmale, die dieses Leben prägen. Das verhindert Einseitigkeit. Es wird nicht nur die Forscherin gezeigt: in der Nische, unbeirrbar, ausgezeichnet. Auch die Freundin und Mentorin, die beliebte Gruppenleiterin, die Netzwerkerin, das unerziehbare Kind, die Mutter zweier Söhne und Großmutter mit fünf Enkeln, die Kräuterbäuerin mit Labor und, und, und. Ein Leben zwischen Luxemburg, Brasilien, Bruck an der Mur, Wien, Paris, Südfrankreich, USA und Abtenau.
Eingestreut sind längere Zitate, die den Spirit von Renée Schroeder im O-Ton wiedergeben. Die Wittgenstein-Preisträgerin, Vizepräsidentin des Wissenschaftsfonds FWF und gewähltes Mitglied in der European Molecular Biology Organisation (EMBO) kann nicht verstehen, warum sie ausgerechnet dafür bekannt geworden ist, aus der Akademie der Wissenschaften ausgetreten zu sein. Wir aber möchte gerne immer wieder mit Champagner darauf anstoßen.
Ob Mädchen, junge oder ältere Frauen: MadameWien legt allen diese Lektüre ans Herz. Sie werden ihre Freude daran haben zu lesen, wie man Strukturen gegen den Strich bürstet, mit mühsamen Chefs umgehen kann, seine Familienpläne durchzieht, mobil bleibt in Geist und Körper, Widerstand leistet, Professorin wird, unabhängig bleibt und dennoch solidarisch ist. Es ist kein Patentrezept, weil jedes Leben anders ist, aber man darf sich etwas abschauen.
Renée Schroeder
Alle Moleküle immer in Bewegung
von Ursel Nendzig
Residenz Verlag 2019
224 Seiten
Euro 24
Astrid ist Wienerin, Working Mum, Wählerin, wählerisch, mag Menschen, Worte und Wale.