Ich meide das Banale

Eva Sangiorgi fotografiert von Nini Tschavoll

Name Eva Sangiorgi, geboren 1978 in Faenza (Italien), ist VIENNALE Direktorin und lebt seit März in Wien Mariahilf.


Eva Sangiorgi war als Direktorin und Programmplanerin des mexikanischen Filmfestivals FICUNAM (Festival Internacional de Cine de la Universidad Nacional Autónoma de México) schon viele Jahre zuvor zu Gast auf der Viennale. Ende 2017 setzte sie sich in einem Hearing unter rund 30 Bewerbungen als neue Direktorin des Vienna International Filmfestivals VIENNALE durch. Am 25. Oktober 2018 wird sie ihre erste VIENNALE eröffnen.

MadameWien traf die gebürtige Italienerin, gelernte Mexikanerin und gewählte Wienerin zum Programmschluss für das diesjährige Festival. Sie wirkt entspannt und fokussiert. Rasch wird klar: Sie nimmt sich selbst nicht schrecklich ernst, ihre Arbeit aber schon. Dass sie tatsächlich die Nachfolgerin des im Juli 2017 unerwartet verstorbenen Langzeitdirektors Hans Hurch geworden ist, hat sie überrascht. Und auch wieder nicht.

Hattest du einen guten Start in Wien, Eva? „Ja, Wien hat extra den Frühling für mich vorbereitet“, schmunzelt sie. Wie viele Filme sie sich seit ihrem Amtsantritt Ende März angesehen hat, um das Programm für die 56. VIENNALE zusammenzustellen, weiß sie nicht. Aber sie hat definitiv jeden einzelnen der 300 Filme ausgesucht. Wenn jemand eine so nachhaltige Faszination für Filme hegt, stellt sich die Frage, wann und woran sie sich entzündet hat.

Aufgewachsen in den 1980er-Jahren in einer italienischen Kleinstadt ohne Programmkino, ist Eva Sangiorgi eigentlich eine Tochter des TV: „Ich habe viele Erinnerungen an Filme, aber erst als Studentin in Bologna hatte ich so etwas wie eine Offenbarung.“ Diese war allerdings fast wie aus dem Lehrbuch: In einem Seminar zur „Semiotik des Kinos“ war eine Liste mit 20 Pflichtfilmen ausgegeben worden. Es war Jean Luc Godards „Außer Atem“ („À bout de souffle“), der ihre Perspektive auf Filme nachhaltig verändert hat. Auch John Cassavetes „Opening Night“ war ein wichtiger Augenöffner. Eine Videothek in Bologna, betrieben von Cineasten, festigte ihre Leidenschaft.

Aber eine Karriere in der Programmplanung war damals nicht in Sicht. Die kam erst mit dem Umzug nach Mexiko, wo sie eigentlich nur ein Jahr Kunstgeschichte studieren wollte. Dort gründete sie an der Universidad Nacional Autónoma de México das renommierte Filmfestival FICUNAM mit, dessen Leiterin sie 2011 wurde. Auch Altmeister Godard wird übrigens bei der VIENNALE 2018 mit einem aktuellen Film vertreten sein.

Heute tritt die Magie der Projektion gegen Netflix auf der Couch an, aber das schreckt Eva Sangiorgi nicht. Alle Festivals müssen diesen Herausforderungen und Ablenkungen begegnen und die VIENNALE hat zum Glück einige Heavy User. Ein wenig hasst sie Netflix, wenn sie ihr gewünschte Filme nicht geben. Sie ist der Firma aber auch dankbar, weil sie sehr guten RegisseurInnen Filmproduktionen ermöglicht.

Kino wirkt jedenfalls besonders stark bei Festivals: „Es ist eine Fiesta mit viel rundherum. Das eigentliche Ritual ist, den Film gemeinsam zu erleben. Alle diese Gedanken und Energien in einem Raum zu teilen. Durch Festivals kann dieses Ritual erhalten werden.“ Und wer jemals im Gartenbau Kino mit 735 anderen geheult oder gelacht hat, weiß, was sie meint. Kino ist ein Medium, das Unterhaltung und kulturelle Ausdrucksform in sich vereint. Das ist schwierig, aber in einem Festival verdichten sich die Emotionen und die Gemeinschaft: „Bei der Eröffnung hauen wir natürlich auf den Putz. Aber das hat mehr damit zu tun, die Veranstaltung elegant zu machen, nicht exklusiv.“ Die zweite Funktion eines Festivals ist nämlich das Heranziehen und Verführen neuer Publikumskreise.

„Ich suche das ganze Jahr über nach Filmen“, betont die Direktorin. Aber natürlich wird die Suche und die Verhandlungen darüber, welche man zeigen darf, gegen Sommer und Herbst intensiver: „Wenn du läufst, darfst du nicht vergessen, auch auszuatmen und das schaffe ich. Die Intensität und das viele Reisen gehören zu diesem Job dazu.“

Die VIENNALE ist eine Rückbesinnung auf das gesammelte Filmschaffen des vergangenen Jahres. Zum einen können Filmemacher sich mit einer Synopsis bewerben. Der Film muss aber beim Festival seine Österreich Premiere erleben. Zum anderen besucht Eva Sangiorgi selbst viele Festivals und beschäftigt Konsulenten als weitere Augen und Ohren. Was muss ein Film nun haben, damit sie ihn ins Programm nimmt?

Kino ist eine Kunstrichtung mit verschiedenen Traditionen, Schulen, Ansätzen und Sprachen, beschreibt die erfahrene Programmplanerin und Kuratorin. Sie wiederholen, werden recycelt, beziehen oder berufen sich aufeinander. Eva will von allem etwas dabei haben: Essays, klassisches Hollywood Kino, Dokumentarfilme, Formwandler. Sie legt Wert auf Screenwriting und Dialoge, aber es kann auch Kino ohne Sprache sein, reale oder fiktionale Stoffe, alltägliche Geschichten oder epische.

Alle Filme werden aus dem Material der Welt gemacht und reflektieren die Themen, die es aktuell gibt: „Die Filme der VIENNALE haben gemeinsam, dass sie alle mit einem großen Bewusstsein für die Form des Kinos gemacht wurden. Sie sind cinematografisch. Ich habe keine speziellen Kriterien. Ich vermeide Banales.“ Eine interessante Geschichte in einem banalen Format – eher nein. Sie will die AutorInnenschaft hinter dem Werk spüren, dann kann es auch eine alltägliche Geschichte sein. Jeder Autor und jede Autorin hat einen Standpunkt, einen Gedanken oder eine Intention. Diese zeigt sich darin, was sie zeigen und wie sie es zeigen.

THE OTHER SIDE von Roberto Minervini, der zu Gast bei der Viennale 2018 sein wird

Die bisher übliche Trennung in Spielfilme und Dokumentarfilme hat sie im Programm aufgehoben. „Das ist für mich gar nicht so revolutionär. Das zeigt eher meinen Respekt gegenüber der Regie. Ich will Kategorien loswerden.“ Es ist ja nicht so, dass ein Dokumentarfilm keinen Autor oder Autorin hat, dass es keine Überlegungen gibt, was es zu sehen gibt. Eine Doku wird gestaltet und mit den Mitteln des Films gemacht: „Wir suchen Filme mit Meinung. Immer mehr Filme mischen die Formen, verändern sich und greifen auf Versatzstücke aus verschiedenen Genres zurück. Es ist eine Herausforderung, ein Spiel und vielleicht locken wir so jemanden in einen Film, den er oder sie anders nicht ausgesucht hätte.“

Eva ist für alle finanziellen und künstlerischen Entscheidungen verantwortlich. So auch für das diesjährige VIENNALE Sujet. Der „Flaming Flamingo“ von Rainer Dempf ist ein echter Hingucker. Eigentlich ein mehrfach Hingucker: „Das Sujet war rasch da, aber ich musste vor der Entscheidung tief durchatmen. Weil wir damit das langjährige Logo des Festivals mit Flamme gebrochen haben. Wir haben es sozusagen in Bewegung gebracht.“

Für Eva spricht der Vogel auf vielen Ebenen. Der „Flaming Flamingo“ ist eine bedrohte Art, wie das Kino. Er trägt die Flamme der VIENNALE sprachlich in sich und wird in den Drucksorten zum moving image (Stichwort Kopf). Der gewählte Bildausschnitt des Flamingos (in der Filmsprache Frame) ist cinematisch und überlässt es der Fantasie der Betrachterin, was der Vogel vorhat: „Die Spannung im Hals verrät, dass er etwas sucht. Aber wie im Kino kannst du dir vorstellen und überlegen, was außerhalb des Frames passiert.“ Die Farbe des Vogel ist feminin und tatsächlich heißt der Farbton auch Rosa mexicano. Beides hat für die Chefin der VIENNALE nichts mit ihrer Person zu tun, ist aber eine Punktlandung. Die Farbe steht für das Interesse an einer anderen Sensitivität.

Was hat dir früher als Gast auf der VIENNALE schon gefallen? Das Programm war immer sehr stark und divers mit einer großen Bandbreite von Filmproduktionen: sehr aufwendige, teure Produktionen und kleine experimentelle Projekte. Es waren früher immer sehr viele Gäste da und da wollen wir wieder hin. Wir müssen diese Feier des Kinos aufrechterhalten, das Zusammentreffen unterschiedlicher Leute. Das ist speziell an der VIENNALE. Es gab für mich immer Möglichkeiten, tollen Regisseuren und Regisseurinnen informell zu begegnen, abseits von rotem Teppich und Security. Es sind viele hier und genießen die Atmosphäre. Ich habe einmal Mathieu Amalric an der Bar getroffen – das ist doch super! Und die VIENNALE Kinos sind alle speziell. Obwohl es kein großes Festival ist, sorgt die Architektur für gute Atmosphäre. Zudem die hohe Qualität der Projektion. Jetzt weiß ich auch, was dahintersteckt.

Deswegen wird vor dem Film immer „eine gute Projektion“ gewünscht und nicht etwa viel Vergnügen … Warum glaubst du, bist du die neue Direktorin der VIENNALE geworden? Ich weiß es bis heute nicht, aber ich freue mich, werde meine Chance nutzen und mich reinhauen. Ich habe mich ja selbst beworben, dachte aber nicht, dass es schon klappt. Ich habe das Hearing mehr als Training gesehen. Vielleicht war ich deshalb besonders entspannt. Natürlich bringe ich einige Jahre Erfahrung mit und habe als Direktorin ein eigenes Festival und das Budget verantwortet Ich habe als Europäerin in Lateinamerika gearbeitet unter harschen Bedingungen. Aber ich bin dennoch exotisch, weil ich nicht in Europa bei einem Festival gearbeitet habe. Es besteht keine Gefahr, diesen Stil mitzubringen oder zu wiederholen. Das ist gut für so ein Projekt. Das Deutsch war wohl nicht so wichtig (lacht). Ich bin zudem eine Frau und ich werde zeigen, was ich kann und wie ich es anlege.

Was ist dein wichtigstes Arbeitsinstrument? Ein leichter Computer und die kleine Familie quaderförmiger Monster: Festplatten mit Filmen, die ich anstecke und dann an einen großen professionellen Bildschirm anschließe. Und meine Lautsprecher. Es ist wichtig, bei einem Film auch zuzuhören, der Ton wird im Computer komprimiert und im Kino ist es noch einmal anders.

Du bist aus Mexico City hierher gezogen. Wien muss dir da ja wie ein Dorf vorkommen. Was gefällt dir an Wien? Wien ist schön. Und einfach – ich bleibe nicht mehr im Verkehr stecken. Es ist einfach herumzukommen. Ich habe ein Rad, gehe viele zu Fuß und ich habe eine Jahreskarte bekommen. Der öffentliche Verkehr ist ... wow! Und es ist leise im Sinne von „nicht geräuschvoll“. Das ist eine Qualität für mich. Das Mysterium Osteuropa und die Erinnerung an das Empire sind im Blut der Wiener vereint. Es ist nicht so germanisch. Ich habe schnell neue gute Freunde gewonnen, obwohl mein Job Sozialleben eher nicht befördert. Deshalb habe ich auch zwei Katzen.

Hans Hurch wollte nur kurz bleiben und hat dann 20 Jahre die VIENNALE geleitet. Du wolltest nur ein Jahr in Mexico bleiben und es wurden 15, weil dich das Projekt so gepackt hat. Vielleicht habt ihr das gemeinsam. Beflügelt zu werden von einer Aufgabe und völlig fasziniert dran zu bleiben. Was ist so klebrig am Filmbusiness? Das hat sicher etwas mit Leidenschaft zu tun. Ich bin in Mexiko geblieben wegen der Atmosphäre des Festivals, bei dem ich angefangen habe. Es geht ums Teilen und nicht nur um die Filme. Vielleicht war Hans – und bin ich auch – sehr selbstsüchtig und unabhängig. Der Prozess der Auswahl, die Selektion, ist einsam und du musst wirklich überzeugt sein. Auch das Herumreisen musst du wollen.

Was machst du nach der VIENNALE am 9. November? Am 9. und 10. November bereiten wir das Geschehen auf und am 11. November fliege ich zu einem Festival nach Mar de Plata in Argentinien.

Ist das heimische Filmschaffen weltweit wahrnehmbar? Im eigenen Land fühlen sich unsere FilmemacherInnen oft unterschätzt und kurz gehalten. Ich mag österreichischen Film, wie andere Filmkulturen auch. Die Produktion ist kleiner als in Mexiko, aber es gibt viele klingende Namen. Ich will die lokale Szene kennenlernen, obwohl es ein internationales Festival ist. Bei der VIENNALE gezeigt werden dieses Jahr auch „Joy“ von Sudabeh Mortezai und „Angelo“ von Markus Schleinzer.

ANGELO von Markus Schleinzer (A/LUX 2018) zeigt die Geschichte des „Hofmohren“ Angelo

JOY von Sudabeh Mortezai (A 2018) erzählt vom schwarzen Straßenstrich in Wien

Was gibt es nur in Wien? Ich möchte Orte nie als Fremde verlassen. Vielleicht werde ich bald eine Wienerin. Und mir ist aufgefallen: Man ist immer schneller mit den öffentlichen Verkehrsmitteln als qando es vorhersagt.

Hast du einen Lieblingsort? Alle fünf VIENNALE Kinos! Und das Kunsthistorische Museum. Nicht nur wegen der Kunst. Wenn man die Stiegen hinaufgeht klingt es, als würde es regnen. Das liegt am Boden und ist für mich ein entspannendes Geräusch. Ich liebe auch Märkte, in meiner Nähe etwa den Naschmarkt.

Auch das Casa México  ist um die Ecke vom VIENNALE Büro. Warst du da schon, oder ist das für dich nicht echt? Ich war schon oft dort. Sie haben viel industriell hergestellte Ware. Es gibt Pulparindo, eine Süßigkeit mit Tamarindengeschmack, guten Tequila und das beste mexikanische Leichtbier „Pacifico“.

Hast du ein Lieblingswort? Paradeiser klingt einfach großartiger als Tomate.

Eine Lieblingsspeise? Ich liebe Gulasch. Es ist nicht von hier und dennoch typisch.

Deine Botschaft an Wien? Du kannst lachen!

www.viennale.at


Die Viennale Kinos:
Gartenbau Kino, Stadtkino im Künstlerhaus, Metro Kino, Urania, Österreichisches Filmmuseum

Astrid ist Wienerin, Working Mum, Wählerin, wählerisch, mag Menschen, Worte und Wale.

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