Wien ist mein Goldfischglas

Stefan Slupetzky fotografiert von Regina Hügli

Name Stefan Slupetzky, geboren 1962 in Wien, von Beruf Schriftsteller und Musiker, wohnt in Wien Alsergrund  


Eines der eigentümlichen Dinge an Wien ist, dass man oft keine echten Wiener antrifft, sondern viel mehr Zugereiste. Stefan Slupetzky ist einmal so ein echter Wiener. Er ist in Wien geboren, aufgewachsen und bisher ohne längere Unterbrechungen wohnen geblieben.

Er schreibt Romane, die in Wien spielen, und textet Wiener Lieder für das Trio Lepschi, dessen Sänger und Virtuose an der Säge er ist. Wir trafen ihn im Café Weidinger um ihn zu fragen, wie es sich anfühlt, von Wien durch und durch geprägt zu sein.

Leider kann er uns nicht weiterhelfen. „Ein Goldfisch in seinem Glas sieht die Welt auf seine Weise“, meint Slupetzky und bezieht sich damit auf ein Radio-Interview mit dem Physiker Stephen Hawking, das er kürzlich gehört hat. Es gibt viele Wahrheiten neben unserer eigenen.

Wer kann schon mit Sicherheit behaupten, dass er die Welt unverfälscht wahrnimmt, ohne ein verzerrendes Glas dazwischen? Er jedenfalls, so Slupetzky, komme sich ein bisschen vor wie dieser Goldfisch. Wien war immer das Glas, in dem er schwamm. Für ihn ist der Zustand des Wienerseins ganz einfach normal.

So sesshaft Slupetzkys Leben bisher war – bunt gemischt sind hingegen die Berufsfelder, in denen er tätig ist. Man kann ihn sowohl durch seine schaurig-abgründigen und witzigen Kriminalromane als auch durch die Bühnenauftritte und CD-Einspielungen mit dem schräg-schwarzhumorigen Trio Lepschi kennenlernen. Zudem wird er als Autor und Illustrator zahlreicher liebevoll gestalteter Kinderbücher sehr geschätzt.

Er hat eine beachtliche Reihe von kreativen Tätigkeiten erfolgreich ausgeübt – an Interessen und Talenten mangelt es ihm nicht. Doch so viele Fähigkeiten zu haben sei nicht nur ein Segen, meint er, lange sei ihm nichts gut und einzigartig genug erschienen. Erst beim Schreiben von Geschichten und Liedtexten entdeckte er etwas ganz Eigenes: seine eigene, unverwechselbare Sprache.

Mit dem im Vorjahr erschienenen Roman „Der letzte große Trost“ hat Slupetzky mit der Wahl eines neuen Genres im Schreiben nochmals Neuland betreten. In Anlehnung an Slupetzkys eigene Familiengeschichte befasst er sich mit düsteren Seiten der Geschichte und der Gesellschaft Österreichs zur Zeit des Nationalsozialismus. Obwohl es eine posthume Liebeserklärung an seinen Vater geworden ist, sei die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bedrückend und emotional belastend gewesen, sagt er heute.

Umso lustvoller hat er sich deswegen in die fabulierende Schreibarbeit an seinem bisher neuesten Roman gestürzt – Die Rückkehr des Lemming, dem nunmehr fünften und ungeheuer unterhaltsamen Fall des Privatdetektivs Wallisch. Der Spaß am Fantasieren, Erfinden und Ideensprühen ist im Produkt gut spürbar. Ohne im Voraus selbst zu wissen, worum es gehen wird, lässt der Autor sich von seinen Einfällen leiten.

Wenn ich einen ersten Zipfel einer Geschichte in der Hand habe, hantle ich mich daran weiter.“ Der Beginn des Fadens war diesmal die Figur eines Wiener Straßenbahnfahrers, der sich in eine Frau verliebt, die jeden Tag in seinen Wagen einsteigt. Diese Figur hat ihm gut gefallen, weil es eine von jenen ist, die wir täglich sehen, aber nicht wahrnehmen.

Zufälligerweise beginnt der Roman in der Straßenbahnlinie D, die im Alsergrund unweit von Slupetzkys Wohnung vorbeituckert, in der er schreibend sitzt. „Ich recherchiere nicht so gerne und deswegen nehme ich halt den Schauplatz, den ich schon gut kenne!“, lacht er.

Doch das Altbekannte ist schließlich bei genauer Betrachtung immer auch das Neue, Unerforschte. Die inspirierendsten Orte in Wien sind für Slupetzky jene, die ihm plötzlich auffallen, während er sie jahrelang zwar gesehen, aber nicht beachtet hat. Dieses feine Beobachten, ein aufmerksamer, unbestechlicher, doch auch humor- und liebevoller Blick ist es vielleicht, der Slupetzkys Texten ihre Besonderheit verleiht.

Thematisch können seine Geschichten an vielen andern Orten auf der Welt angesiedelt werden. Der Fokus seiner Bücher ist nicht Wien, aber Slupetzkys spezifischer Blick durch das Goldfischglas, seine Wiener Prägung, lässt die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner außerordentlich authentisch aufscheinen.

Wir versuchen es deswegen nochmals mit derselben Frage: Worin besteht das Wienerische der Wiener? Vielleicht ist das Spezifische ein bisschen eine Langsamkeit … also für mich ist das hier Wien das Café Weidinger. Vielleicht hat es auch mit der Gewohnheit zu tun, Dinge fein zwischen den Zeilen schwingen zu lassen, nicht immer alles auszusprechen … natürlich auch die Verwendung des Konjunktivs: „Wären Sie so freundlich, mir einen Kaffee zu bringen.“ Das ist für einen Deutschen viel zu umständlich. Dagegen im Deutschen:„Ein Kaffee, bitte!“ – das klingt so grob … (schüttelt sich)

Wenn Wien eine Person wäre, wie würdest Du sie beschreiben? Ein nicht wahnsinnig hübscher, etwas langsamer Mensch, der im Reden zu einer großen, politischen Unkorrektheit neigt, im Handeln aber dann doch sehr gefühlsbetont und mitfühlend ist. Man kann auf jeden Fall nur von Nuancen sprechen, die Globalisierung ist natürlich auch hier angekommen. Und es sind natürlich beileibe nicht alle Wiener so.

Aber diese Beschreibung ist der Ausdruck meiner Beobachtung, dass zunehmend Leute herumlaufen, auch gerade in der Politik, die alles gendern und immer korrekt sprechen, alle möglichen Worte verbieten und neue, euphemistische erfinden, die aber zugleich in ihrem Denken und Handeln die größten Schweine sind. Mir sind halt die lieber, die schirch sprechen und gut handeln – und solche gibt es in Wien! Ich glaube, ich bin auch so einer! (lacht)

Noch eine Frage im Konjunktiv: Wenn Wien in der Welt eine Aufgabe hätte, was wäre die? Entschleunigung.

Gibt es einen historischen Wiener, den Du besonders schätzt? Da fallen mir gleich zwei ein. Der eine, von dem nicht viele Menschen wissen, ist der Rudolf Prikryl. Das war ein Installateur, der sich in den Tagen, als die Rote Armee die Naziarmee aus Wien zurückgedrängt hat, in das Wiener Rathaus gesetzt hat. Er hat gesagt, er sei nun der neue Bürgermeister. Drei Tage lang war er Wiener Bürgermeister und hat viel dafür getan, die völlig darniederliegende Infrastruktur wiederzubeleben. Er hat ganz viele Bescheinigungen und Vollmachten ausgestellt.  Es ist zum Beispiel einer zu ihm gekommen und hat gesagt: „Das Flotten-Kino steht leer, ich würde das gerne übernehmen.“ Da hat der Prikryl gesagt: „Ja, bitte!“ und hat das abgestempelt.

Er hat auch Vollmachten für Kranken- und Verletztenpflege erteilt. Den politischen Bildungspionier Viktor Matejka hat er für das kulturelle Leben Österreichs zuständig erklärt. Der Matejka hat später mal in einem Interview gesagt: „Ich habe eh nur für Wien gefragt, aber er hat gleich für ganz Österreich hingeschrieben!“ Nach drei Tagen wurde dann Theodor Körner Bürgermeister, der Prikryl ist verschwunden und irgendwann verarmt gestorben.

Wie ist Rudolf Prikryl dazu gekommen, sich zum Bürgermeister zu ernennen? Es gibt nur Mutmaßungen. Er war Kommunist, hat im spanischen Bürgerkrieg gekämpft, und es wird gemunkelt, die Sowjets haben ihn bei ihrem Einmarsch eingesetzt, aber es gibt auch die Geschichte, dass er sich selber hingesetzt hat. Er war eine schillernde Persönlichkeit, war auch vorbestraft mit einigen Betrügereien … aber in seiner Zeit als Bürgermeister hat er sich nicht zu bereichern versucht, sondern geholfen, alles neu anzukurbeln.

 

Und der andere Wiener? Das war Josef Kyselak. Er war Hofkammerbeamter und Alpinist und der unwidersprochene Vorreiter der Graffitikunst. Er hat an allen möglichen und unmöglichen Orten in Österreich und eben auch in Wien seinen Namen hinterlassen: „Kyselak war hier!“ Es gibt die wunderschöne Geschichte – wenn sie nicht wahr ist, ist sie großartig erfunden –, dass Kyselak zu Kaiser Franz I. gerufen wurde. Der schimpfte mit ihm und meinte, er habe kaiserliche Gebäude beschmiert. Er soll ihm das Versprechen abgerungen haben, dass er nie wieder seine Graffitis hinterlässt. Der Kyselak habe es ihm gegeben, und wie die Audienz beendet war, habe der Kaiser unter seinem Schreibtisch das Wort „Kyselak“ eingeritzt gefunden. Diese beiden Herren gefallen mir sehr gut, sie haben etwas Anarchistisches, Schelmisches … und Renitentes.

Gerne würden wir Dich noch fragen, warum Du so gerne in Kaffeehäusern bist. Es hat etwas mit der Zeit zu tun, die Zeit verrinnt dort anders. Es ist ein anderes Zeitgefühl, man hat dort so viel davon. Die Leute sitzen da, denken nach, lesen was. Wirken nicht so übereilt in ihren Entscheidungen.

Im Café Weidinger kann man auch gut stundenlang Karambol spielen … Ja, Freunde von mir treffen sich hier einen Abend jede Woche. Ich habe schon während meiner Schulzeit gerne Karambol gespielt, eigentlich hätte ich in den Tanzkurs sollen, bin aber lieber zu den Karamboltischen verschwunden. Jetzt kann ich halt nicht tanzen.

Wo gehst Du sonst noch gern hin? Ich verbringe meine freien Abende ohne Auftritte und Lesungen am liebsten mit meiner Familie. Oft gehe ich am Feierabend noch gleich ums Eck in so Lokale, die etwas schmuddelig sind, z. B. eine kleine Pizzeria gleich beim Franz-Josefs-Bahnhof, das Billini, eigentlich eher ein Trinklokal, wo man sich halt nach der Arbeit noch trifft. Sehr ungern gehe ich in ein Lokal, in dem man nicht rauchen darf. Es werden nächstes Jahr sicher einige von denen, die es jetzt noch gibt, zusperren müssen.

Die ganzen Vorstadttschocherln, wo die Leute hingehen am Abend, um sich zu entspannen, ein Bier zu trinken, eine Zigarette zu rauchen, werden verschwinden. Die Leute werden dann einfach zuhaus’ bleiben. Ich verstehe die Bevormundung der Gesetzgeber nicht, dass man erwachsene Menschen, die beschlossen haben, weiter zu rauchen, nicht einfach in Würde ausrauchen lässt. Stattdessen muss man als Raucher draußen stehen, und Krankenkassen mit Grippe- und Verkühlungskosten belasten, und die Nachbarn ärgern mit Lärm um Mitternacht.

In welchen Lokalen in Wien kann man das Trio Lepschi in Aktion antreffen? Wir treten am liebsten in diesen altvorderen Lokalen auf, wo die Zeit etwas stehengeblieben ist – beispielsweise das Schutzhaus Zukunft, das Café Heumarkt, das Weinhaus Sittl, oder der Birner an der Alten Donau.

Du magst alte Gasthäuser und liebgewonnene Gewohnheiten – magst Du auch alte Gegenstände? Ja, ich mag alte Gegenstände sehr. Diese Dinge strahlen eine gewisse menschliche Zugewandtheit im Hinblick auf Ihre Herstellung aus. Da hat sich jemand Mühe gegeben, die sind langlebig, während heute Dinge oft absichtlich kurzlebig gestaltet werden. Diese geplante Obsoleszenz halte ich für ein wirkliches Verbrechen. Besonders spannend finde ich es persönlich aber auch, wenn man den ursprünglichen Verwendungszweck bei gewissen alten Gegenständen nicht mehr kennt. Das Leben hat sich so geändert, dass es die Tätigkeiten, für die der Gegenstand verwendet wurde, in der Form nicht mehr gibt.

Ziehharmonika mit Expander: Jetzt wird wieder der Bizeps strapaziert! (Fritz Gall), Nonseum

Die Umwidmung und Zweckentfremdung von Objekten ist einer der Themen des Vereins zur Verwertung von Gedankenüberschüssen, dessen Gründungsmitglied Du bist. Ja, im Nonseum in Herrenbaumgarten im Weinviertel, das von unserem Verein betrieben wird, kann man großartige Erfindungen wie den ausrollbaren Zebrastreifen oder den umschnallbaren Bizeps bewundern.

Wie ist es zur Gründung dieses speziellen Vereins gekommen? Ich habe damals mit meinem Freund Fritz in einer Wohngemeinschaft in Wien gewohnt, und wir haben am Abend immer viel Wein getrunken. Eines Abends nach einem opulenten Essen und viel Wein saßen wir vor dem Tisch, auf dem dieses vollgesaute Tischtuch lag. Da hat einer von uns gesagt: „Mei das wäre jetzt voll praktisch, wenn wir ein würfelförmiges Tischtuch hätten, dann müssten wir es jetzt nur umdrehen, und hätten wieder eine saubere Fläche vor uns, und wir könnten es sogar sechsmal verwenden!“ Diese Idee wurde dann die ganze Nacht lang weitergesponnen.

Diätteller, verspiegelt. Volle Portion für das Auge, halbe für den Magen (Gustav Slupetzky)

Auch mit Worten lässt sich fein spielen. Du liebst Schüttelreime und den Wiener Dialekt. Kannst Du uns ein paar besonders schöne Wiener Ausdrücke aus Deinem Repertoire nennen? Es gibt ein Lied von uns, dem Trio Lepschi, das voll ist mit solchen Ausdrücken („Solaung“ auf der CD „Mit links“). Sehr gut gefällt mir beispielsweise davon der „Zwirnscheißer“ (ein umständlicher Mensch) oder der „Duttelschupfer“ (Büstenhalter). Besonders viel Freude habe ich auch an neu geprägten Wiener Ausdrücken. Kürzlich zum Beispiel bin ich dem Adjektiv „fleischblond“ als Bezeichnung für einen Glatzköpfigen mit viel Genuss zum ersten Mal begegnet.

Was möchtest Du Wien ausrichten? Bessere Dich. Bleib wie Du bist!

www.stefanslupetzky.at


AKTUELLE TERMINE:

31. Oktober 2017, 19.30 Uhr
Theater am Spittelberg, Spittelberggasse 10, 1070 Wien
"Vabiats as!"
Das Trio LEPSCHI findet Spittel und Wege

2. November 2017, 19.30 Uhr
INTU books, Wiedner Hauptstraße 13, 1040 Wien
LESUNG aus "Die Rückkehr des Lemming"
 
12. November 2017, 11.00 Uhr
Literaturcafé auf der BuchWien
LESUNG aus "Die Rückkehr des Lemming"
 
17. November 2017, 19.00 Uhr
Weinstube Josefstadt, Piaristengasse 27, 1080 Wien
Klassenpräsentation von Stefan Slupetzkys krimineller Liederklasse in der Schule für Dichtung
Das Trio LEPSCHI kriminell!
 

Regina Hügli liebt Licht, Bilder und Begegnungen. Deswegen fotografiert sie gerne Menschen. In Wien oder anderswo auf der Welt. Fotografien sollen Spass machen, wunderschön sein oder Tiefsinniges ausloten.
Alles andere ist Käse - und dann am besten Schweizer Käse.

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