Das wichtigste ist der Moment

Ruth Beckermann fotografiert von Nini Tschavoll

Name: Ruth Beckermann, Filmschaffende, geboren 1952 in Wien, hat in Tel Aviv und New York gelebt und wohnt seit 1987 immer wieder in Wien. Am 4. November kommt ihr aktueller Film MUTZENBACHER ins Kino. Zu Gast in ihrer Wohnung sprachen wir über Sex, Flirts, Filme und Protest in Zeiten der Digitalisierung.


Für Ruth Beckermann war Josefine Mutzenbacher ein Aufklärungsbuch: „Als Kind weiß man ja nichts und die Erwachsenen wollen es einem erst viel später sagen. Für meine Generation waren Bücher die Informationsquelle, heute ist es das Internet.“ Die Filmemacherin bedauert die Heranwachsenden heute, weil Texte und Töne zwar mehr Raum für Fantasie lassen, die „totale Bildkultur“ aber zum Nachstellen verleitet. Zudem sind Bücher in sich geschlossen und das Internet stellt alles – auch Verstörendes – nebeneinander.

In ihrem aktuellen Film lässt die Dokumentarfilmerin Männer zwischen 16 und 99 Jahren zunächst Passagen aus dem Roman „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt“ lesen und kommt danach mit ihnen ins Gespräch und in die Reflexion.

Die Auswahl der Textstellen dauerte eine ganze Weile, da Beckermann unterschiedliche Aspekte des erstmals 1906 in kleiner Auflage publizierten Buches zeigen wollte. Zunächst ordnete sie die Textausschnitte sorgfältig den zum Casting vorsprechenden Charakteren zu. Im Laufe der Drehs merkte sie, dass es „auch lustig ist, einfach einen auszulosen. Jeder der reinkam, hat gleich am Anfang einen Text gelesen, zur Enthemmung oder als Trigger“, erzählt sie.

Die Geschichte ihres 15. Films reicht eine Zeit lang zurück. Er war zunächst so etwas wie ein ceterum censeo, der Film, den sie irgendwann mal machen würde, ein Running Gag, erzählt sie lachend. Doch dann kam sein Moment: zu Beginn der berührungslosen Pandemie, mit all ihren praktischen Einschränkungen, die das komplexe Räderwerk der Filmentstehung beinahe ganz zum Stehen brachten. Das Film-Setting ist zwischen Boudoir und Beichtstuhl angesetzt. Ein rosa Erotiksofa steht in einer nüchternen Fabrikshalle, an der weiß gekalkten Wand prangt in großen Lettern der Schriftzug „Rauchen verboten“. Hier wird das „gebrochene Casting“ inszeniert.

Eine englische Journalistin schrieb: „So weit sind wir heute gekommen, von Mutzenbachers 'Everything goes' zu 'Rauchen verboten'.“ Das gefällt der Regisseurin. Die Männer kommen allein, zu zweit oder dritt herein und nehmen Platz: „In das rosa Sofa habe ich mich verliebt. Es weckt tolle Assoziationen wie Besetzungs-Couch oder Freudsches Sofa.“ Zugeschrieben wird der Erotikroman Felix Salten, dem Schöpfer von Kinderbüchern wie z.B. 'Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde', doch ist seine Autorenschaft bis heute nicht gewiss.

Kinder, junge und ältere Frauen sind in dem Werk quasi dauernd willig und verfügbar, haben stets Spaß an sexuellen Gefälligkeiten. Ist Josefine ein Opfer sexueller Gewalt - bereits als Kind durch Priester und Vater? Ist die Dirne eine selbstbestimmte junge Frau? Auch darüber wird im Film gesprochen. Die einen finden das Beschriebene geil, die anderen haben Gewissensbisse, manche schwadronieren von eigenen Heldentaten (Zitat „Ich habe viele Frauen unverbindlich beglückt“), andere reflektieren über das erste Mal. Auch Moral, Missbrauch und die Begegnungen zwischen Männern und Frauen heute werden besprochen.

In einem Portrait in der Süddeutschen Zeitung schrieb Susan Vahabzadeh 2018: „Ruth Beckermann ist Spezialistin darin, Dinge ans Licht zu zerren, die andere lieber unter den Teppich gekehrt hätten.“ Aber wie macht sie das? Sie sitzt den Männern gegenüber, direkt neben der Kamera, sie filmt und stellt intime Fragen. Die Männer kannte sie vorher allesamt nicht. Nur den Schriftsteller Robert Schindel hatte sie selbst gebeten, dabei zu sein.

Etwa 150 meldeten sich auf den Casting-Aufruf für MUTZENBACHER. Hundert wurden dann für die Dreharbeiten aus einem Warteraum im Slot-System hereingeführt: „Das war mein Spiel, meine Herausforderung. Viele Menschen erzählen mir ziemlich sofort alles. Es ist wohl meine Ausstrahlung. Das kann man niemandem beibringen. Die Menschen spüren, ob man authentisch ist. Dass ich sie nicht ausnützen und vorführen will. Ich (ver)urteile nicht. Mich interessiert die comédie humaine, also was es alles gibt im Leben. Und ich lerne in jedem Film etwas über die Menschen. Das ist es, was mich interessiert.“

Jetzt will MadameWien natürlich wissen, was Ruth Beckermann über Männer gelernt hat. „Es ist kaum möglich einen Menschen wirklich kennenzulernen. Männer sind unterschiedlich, wie eben alle Menschen. Frauen sagen oft, dass Männer nicht über ihre Gefühle reden. Das kann ich nach diesem Film nicht bestätigen. Ich habe Unterschiede zwischen den Generationen wahrgenommen. Wie sie sitzen, schauen, lesen. Die Jungen sind freier, sie sind lockerer und reflektierter. Die ganz Alten sind auch locker, die mittelalten Männer am unlockersten.“
Einer wirkt, wie aus dem Buch entstiegen, andere jammern über die toxische Weiblichkeit. Oder darüber, dass man als Mann heute gar nichts mehr sagen und machen dürfe.

Leben wir in einer sexuell aufgeklärten, gleichberechtigten Welt, oder war früher alles besser, Frau Beckermann? „Niemals war es leicht, in die Sexualität hinein zufinden. Ob es wirklich so funktioniert, wie in der Mutzenbacher, zeigt erst die (eigene) Erfahrung. Es ist sicher auch heute schwierig. Die Veränderungen sind einerseits positiv, andererseits wird das Konsensuale heute sehr eng definiert. Menschen lernen einander eher auf digitalen Plattformen kennen. Was man einen Flirt genannt hat, ein einvernehmliches Spiel, findet nicht mehr statt, weil jeder in sein Handy schaut. Ich glaube, Spiel und Spontaneität sind heute out, in jeder Phase. Und das setzt sich im Bett vielleicht fort.“

Vielleicht ein guter Moment, um über Teamarbeit zu sprechen. Ruth Beckermann arbeitet ausschließlich mit Menschen, deren Arbeit sie schätzt. Wovon hängt es aber ab, ob sie hinter der Kamera eher mit Frauen oder Männern arbeitet? „Ich arbeite grundsätzlich immer in gemischten Teams. Einen Mann dabei zu haben ist immer gut - für alles Mögliche“, lacht sie.

Vor MUTZENBACHER, der erstmals bei der Viennale 2022gezeigt wurde, legte sie mit 'Waldheims Walzer' den Finger in die Wunde. Bei einer so langen Filmografie und einem so breiten Schaffen lohnt der Blick zu den Anfängen. Begonnen hat Beckermann, die in Wien Publizistik und danach in New York Fotografie studierte, mit der Montage von Aufnahmen zur Arena-Besetzung 1976/77 – einem militanten Film. Es folgte ein Film über den Streik bei Semperit und 1981 einer über einen Streik im Stahlwerk von Judenburg. Sie schreibt aber auch Bücher, macht Installationen im Raum.

Beckermann wird zumeist als Dokumentarfilmerin bezeichnet, wobei sie auch hybride Filme wie 'Die Geträumten' gemacht hat. Im Schnitt etwa alle drei Jahre dreht die Regisseurin, die einen Verleih mitgegründet und seit 2000 eine eigene Produktionsfirma hat, einen neuen Film. Es ist wichtig, die Strukturen zu verstehen, wenn man Filme machen will, findet sie. Und ihre Strukturen geben ihr die Freiheit zu machen „was ich machen will.”

Oft beschäftigt sie sich lange mit einem Thema und verfilmt den Stoff dann doch nicht. „Ich bereite mich lange vor, lese ganz breit und rede mit vielen Menschen. Wenn ich dann vor der Kamera mit jemandem spreche, stelle ich mich ganz auf die Person ein. Ich mag es, wenn es bei aller Vorbereitung noch etwas Ungeplantes gibt. Es geht immer um den Moment. Ich lasse mich leiten von der Person, vom Licht, vom Setting. Ich habe es nicht gerne, wenn alles vorher festgelegt ist. Also vielleicht, weil ich gerne überrascht werde, am liebsten von realen Menschen.

Ihr Schaffen dreht sich um Unzugehörigkeit ('Unzugehörig. Österreicher und Juden nach 1945' heißt ihr 2005 neu aufgelegtes Buch) und um Ungehörigkeit – etwa in Form von Protest. Aber sie lässt eben nicht nur ihr Schaffen sprechen. Zuletzt nahm sie – anlässlich des Interviews mit Radiodirektorin Ingrid Thurnher zu Plänen für Radio Ö1 und FM4–, an einer Lesung der IG Autorinnen / Autoren aus dem 'Köchelverzeichnis' teil. Sie sprach vor Studierenden der #unibrennt-Bewegung, macht mit bei #KlappeAuf. „Wenn ich es richtig und wichtig finde, bin ich dabei. Engagement gehört für mich zum Bürgerin Sein dazu. Das ist eine zivilgesellschaftliche Verantwortung. Ich fände es gut, wenn 100.000 Leute für Ö1 auf der Straße demonstrieren. Das müsste heute die junge Generation noch mehr tun.“

Die Diskussionskultur ist schwächer geworden: „Wie bei den Dating Apps verlagert sich im Moment vieles ins Netz. Das ist sinnvoll für manches, aber nicht für alles, weil es sehr flüchtig ist. Ich glaube, das wird sich wieder verändern. Das läuft sich tot. Vielleicht muss jeder Mensch eine Phase durchmachen, jetzt eben Social Media, um sich danach mehr dem Leben zuzuwenden.“

 

Haben Sie ein Wiener Lieblingswort? Bussl!

Wonach schmeckt Wien? Wie riecht es? Nach der Mischung von Würstelstand und Fiakerpische am Hohen Markt. Das ist aber ein sehr guter Würstelstand.

Was ist Ihr Lieblingsort in Wien? Ein Kaffeehaus.

Ein Lieblingskino in Wien? Das kann ich nicht machen. Das ist unfair. Es gibt einige.

Unverfänglicher, haben Sie Lieblingsregisseure? Agnès Varda, Michelangelo Antonioni, Chris Marker, Chantal Akerman und Billy Wilder natürlich – mir fällt auf: die leben alle nicht mehr.

Was möchten Sie Wien ausrichten? Traut euch doch auch bei Rot über die Straße zu gehen. Das ist der Beginn des selbständigen Denkens!


WEB

Auszug aus dem Film:

Die Männer skandieren im Chor:
»Was tut der Schwanz in der Fut?« »Vögeln.«
»Was tut der Schwanz in der Fut?« »Vögeln.«
»Was tut der Schwanz in der Fut?« »Vögeln.«
»Wie heißt das noch?«
»Pudern, Ficken, Remmeln, Bimsen, Petschieren, Stemmen.«
»Rammeln heißt das, Rammeln.«
»Remmeln.
Hier steht ‚Remmeln‘«.
»Ist Rammeln besser?«
»Literatur, das können wir nicht ändern.«
»– Achso. Literatur.«

Astrid ist Wienerin, Working Mum, Wählerin, wählerisch, mag Menschen, Worte und Wale.

Nini schreibt, fotografiert und bloggt digital.
Mag aber auch analog noch immer.

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