Zugehörig sein zu wollen, ist Teil unserer Natur

Jessica Hausner fotografiert von Nini Tschavoll

Name: Jessica Hausner, geboren 1972 in Wien, von Beruf Regisseurin, Professur an der Filmakademie Wien, lebt in Wien Leopoldstadt


Für ihren neuen Film CLUB ZERO ließ sich Jessica Hausner lose vom Märchen „Der Rattenfänger von Hameln“ inspirieren. Das Set ist freilich keine mittelalterliche Stadt samt Flöte spielendem Kinderfänger, sondern ein Schulgebäude in Oxford, entworfen vom legendären dänischen Architekten und Designer Arne Jacobson. In der elitären englischen Privatschule baut eine manipulative Lehrerin (Mia Wasikowska) ein enges Verhältnis zu ihren Schüler:innen auf. Sie führt ihre Schützlinge in einen extremen Ernährungskult ein, der auf einer radikaler Reduktion von Nahrung basiert. Die Jugendlichen entziehen sich bald dem Einfluss ihrer Eltern, die kaum Zeit für sie haben. In einer Gesellschaft, die auf Leistung und Erfolg basiert, glauben die Schüler:innen, ihr Heil bei der Lehrerin zu finden.

Ist das Thema Essen in unserer Gesellschaft zur Ersatzreligion geworden? Ich glaube, es gibt Ersatzreligionen. Es hat mich immer schon fasziniert, warum Menschen an etwas glauben müssen oder wollen. Ich habe den Eindruck, das scheint Teil unserer menschlichen Natur zu sein. Dass wir uns in Gruppen zusammenfinden, die gemeinsam an etwas glauben oder eine bestimmte Lebenseinstellung teilen oder ein bestimmtes Ziel vor Augen haben. Es geht ganz stark um Sinnstiftung. Anscheinend ist man überzeugt davon, dass es sinnvoller ist, wenn man „zu mehrt“ an etwas glaubt. Also ja, Essen gehört da sicher auch dazu. Ein Beispiel dafür ist etwa: Bist du für oder gegen vegan?

Es hätte im Film auch ein anderer Kult sein können, warum haben Sie das Thema Essen gewählt? Ich bin drauf gekommen, dass Essen doch ein sehr existenzielles Thema ist. Man muss essen, um zu leben. Essensrituale sind innerhalb einer Gesellschaft sehr wichtig. Wenn einzelne nicht mitmachen dabei, fühlen sich die anderen angegriffen. Essen ist einerseits wichtig, aber es wird auch tabuisiert. Über Essstörungen wird ungern gesprochen, vor allem von Betroffenen und von deren Verwandten. Interessant ist auch, dass Schauspieler:innen nicht gerne vor der Kamera essen. Somit habe ich in mehrerer Hinsicht festgestellt, dass Essen ein privates aber auch ein gesellschaftsrelevantes Thema ist.

Nehmen sie einen extremer werdenden Ernährungskult wahr? Das Bedürfnis, zu einer Gruppe zugehörig zu sein, spielt hier bestimmt eine Rolle. Es kann sein, dass es bei Jugendlichen derzeit stark um Phänomene wie Bodyshaping usw. geht, was u.a. auch mit Essen zu tun hat.

In ihrem Film kommen Soziale Medien gar nicht vor. Die Gruppenbildung geht rein über persönliche Kontakte. Vielleicht habe ich sie bewusst ausgeklammert. SoMe sind ein massiver Bestandteil von Gruppenbildung heutzutage. Aber vor allem wollte ich das Geschehen nicht so einfach auf den Einfluss von Social Media beschränken. Wäre das im Film vorgekommen, hätte es geheißen: Social Media verführt die Kinder. Ich wollte etwas anderes zeigen. Ich wollte erzählen, dass es ein grundsätzliches Bedürfnis nach Zugehörigkeit gibt. Danach, Aufmerksamkeit zu bekommen und etwas Sinnvolles zu machen. Die Frage nach der Verantwortung der Eltern dieser Kinder hat mich ebenfalls beschäftigt. Sind die aufmerksam genug? Kriegen die mit, was mit ihren Kindern passiert? Können sie es überhaupt mitkriegen, wenn sie den ganzen Tag in ihrem Beruf stehen und am Abend müde sind?

Sind die Eltern in diesem Film verantwortungslos, weil sie ihre Kinder ins Internat stecken und somit der Einrichtung die Verantwortung übertragen? Nein, sie sind mit sich und vor allem mit ihrer Arbeit beschäftigt. Ich würde das nicht pejorativ beschreiben wollen. Alle berufstätigen Eltern haben das Thema oder die Not, wer auf ihr Kind aufpasst. Es ist aber nicht die individuelle Schuld der Einzelnen. Wir leben in einer Gesellschaft, wo die Eltern bis am Abend arbeiten, die Schulen aber um 14 Uhr aus sind. Wie soll sich das ausgehen?

Da bietet sich so ein Internat gut an für die, die es sich leisten können. Die Schule im Film ist eine Art Eliteinternat, ein „Talent Campus“. Die Direktorin wirbt mit dem Motto „There is more in you“. Mir ging es auch darum zu zeigen, dass auf diesen Kindern ein ganz schöner Leistungsdruck lastet. Die wurden schon dort hin geschickt, um besonders zu sein, um mehr aus sich zu machen. In unserer Gesellschaft stehen sowohl Erwachsene als auch Jugendliche unter einem ganz großen Druck, zu leisten.

Ihre Filme wirken sehr präzise. Können sie uns einen Einblick in ihre Herangehensweise geben? Ich zeichne ein Storyboard, wo ich versuche mir vorzustellen, wie die Bilder aussehen sollen. Manchmal kenne ich die Location schon, manchmal nicht. Oft geht es erstmal nur darum, die Einstellungen festzulegen, ob es eine Totale wird oder eine Nahaufnahme. Ich entwerfe den Rhythmus, wie die Zeit einer Szene vergeht und wie der Bildausschnitt aussieht. In meinen Filmen gibt es immer ein Off, denn wichtig ist für mich zu erzählen, dass der Film nur einen Ausschnitt zeigt. Meine Filme nehmen die Zuschauer nicht bei der Hand und sagen: Das sollst du denken und fühlen, sondern ganz im Gegenteil. Der Film hat eine gewisse Distanz und zeigt immer nur einen Ausschnitt. Die Zuseher:innen sind eingeladen, sich ihren eigenen Reim darauf zu machen. Ich habe alle meine Filme mit dem Kameramann Martin Gschlacht gedreht. Im Laufe der Jahre haben wir gemeinsam diese seltsame Filmsprache entwickelt, um dann in der Lage zu sein zu erklären, warum sie so ist. Es war learning by doing.

Die Kostüme in Ihren Filmen sind oft außergewöhnlich. Schlicht und auffallend zugleich. Auch mit meiner Schwester Tanja Hausner arbeite ich seit meinem ersten Film zusammen. Sie ist Kostümbildnerin und von Anfang an beteiligt. Tanja ist eine der Ersten, mit denen ich überhaupt über das Drehbuch spreche. Meist entwickeln wir die Farbigkeit der Filme über das Kostüm. Die Ausstattung kommt später. Es gibt oft Uniformen in meinen Filmen, gerade wenn ich über gesellschaftliche Zugehörigkeit erzähle. Da ist die Uniform ein zentraler Punkt. Kleidung suggeriert, wer ich sein möchte, viel mehr als wer ich wirklich bin. Deshalb fange ich gerne mit den Kostümen an. Wir überlegen, wie die hierarchische Struktur in der Geschichte ist, was das für Leute sind, wie sie sich anziehen und was es über sie aussagt. Dann entwickeln wir die Farbigkeit, die dazu gehört. Die Schuluniformen in CLUB ZERO sind natürlich erfunden, die Farbigkeit ist wahrscheinlich krasser als in der Realität.

Sie haben den Film in englischer Sprache gedreht. Ja, seit meinem letzten Film „Little Joe“ drehe ich auf Englisch. Das macht den Film für ein größeres Publikum zugänglich. Er wird auch auf Deutsch synchronisiert.

Was wäre ein Ort, eine Ecke in Wien, an dem sie sich eine Szene in einem ihrer Filme vorstellen könnten? Oder anders: wo würden Sie in Wien gerne drehen? In einer Aida Filiale.

Haben sie privat einen Lieblingsort in Wien? Ich glaube, ich bin gerne zuhause.

Nach was riecht Wien für Sie? Nach Staub.

Nach was schmeckt Wien? Nach Kaffee.

Haben Sie ein Lieblingslokal in Wien? Ja, die schöne perle, ganz in der Nähe meiner Wohnung.

Haben Sie ein Lieblingskino in der Stadt? Das Filmmuseum.

Welche Regisseur:innen sehen sie als Vorbilder? Auf jeden Fall Catherine Breillat, die gerade zur Viennale in Wien war und eine Masterclass abgehalten hat. Auch Chantal Ackermann und Maya Deren.

Welches Wiener Wort mögen sie besonders? G´feanzt. Das ist jemand, der witzig ist, aber auch ein wenig bösartig.

Was möchten sie Wien ausrichten? Die typische Wiener Küche abzuschaffen. No more Schnitzel, no more Knödel. Statt dessen mehr gesundes Essen.


 

 


 

 

CLUB ZERO
(A/UK/D/F/DK 2023, 110 Min)

Kinostart Österreich:
17. November 2023
Regie: Jessica Hausner
Drehbuch: Jessica Hausner, Geraldine Bajard
Mit: Mia Wasikowska, Sidse Babette Knudsen, Elsa Zylberstein,
Mathieu Demy, Amir El-Masry, Ksenia Devriendt, Luke Barker u. a.
Kamera: Martin Gschlacht
Schnitt: Karina Ressler
Musik: Markus Binder
Kostüme: Tanja Hausner
Production Design: Beck Rainford
Ausstattung: Tom Kratz, Emma Field-Rayner
Produktion: coop99 filmproduktion, Coproduction Office und Paloma Productions

Nini schreibt, fotografiert und bloggt digital.
Mag aber auch analog noch immer.

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