Mit rosa Brille in dunkle Winkel leuchten

Sudabeh Mortezai fotografiert von Nini Tschavoll

Name: Sudabeh Mortezai, geboren 1968 in Ludwigsburg (D), aufgewachsen in Teheran und Wien. Sie ist Filmemacherin und lebt in Rudolfsheim-Fünfhaus.


Ob beim Filme machen oder beim Filme anschauen: Sudabeh Mortezai fürchtet starke Emotionen nicht: „Das Geschehen darf mich erschüttern oder erfreuen. Hauptsache es ist mir nicht wurscht.“ Gerade das Medium Film spricht mehrere Sinne an und kann daher die Klaviatur unserer Gefühle meisterhaft bedienen. Wir treffen die Filmemacherin mit der markanten, rosa getönten Brille auf einen Capuccino im Cafe Z, um über ihren neuen Spielfilm zu sprechen.

Auch ihr mehrfach ausgezeichneter Film JOY, der am 18. Jänner in die Kinos kommt, wird das Publikum zielsicher ins Mark treffen. Es geht darin um Menschenhandel. Die Österreicherin mit iranischen Wurzeln leuchtet alle Kurven und Sackgassen eines Teufelskreises aus. Sie nimmt Facetten von Illegalität und Perspektivlosigkeit in den Fokus. Sie zeigt den Alltag nigerianischer Frauen in Wien, die auf den Straßenstrich gehen, um sich freizukaufen. Das alles erlebt das Publikum aus der Perspektive der erfahrenen Prostituierten Joy, die sich um die sehr junge Precious kümmern muss.

Die spätberufene Regisseurin will durch das Selbermachen lernen. Vorbilder hat sie keine. Die gewählte Form ergibt sich aus der Geschichte und der Auseinandersetzung mit einem Thema: „Ich habe Lust meine eigenen Scheuklappen abzulegen. Bei jeder Recherche eröffnet sich mir eine neue Welt. Da fängt es an und das motiviert mich“. Am Anfang von „JOY“ stand „Ware Frau. Auf den Spuren moderner Sklaverei von Afrika nach Europa”. Das Buch ist 2008 erschienen, geschrieben von Corinna Milborn und Mary Kreutzer. Es ist eine gute Einführung in den Menschenhandel und seine Mechanismen – und ungebrochen aktuell.

Rund zwei Jahre investierte Sudabeh in die Recherche und das Drehbuch. Das erste Jahr tappte sie viel im Dunklen „obwohl ich viele Menschen getroffen habe von NGO, Polizei, Gesundheitsamt. Sie alle hatten wichtige Infos. Die gezielte Recherche im Rotlichtmilieu hat mich nicht weitergebracht, weil die betroffenen Frauen verständlicherweise Angst haben, auszupacken.“ Es ist für die Regisseurin essenziell, Menschen zu begegnen. Selber zu erfassen, wie sie ticken, was ihre Geschichten sind und welche Charaktere man aus ihnen bauen kann. Also hat sie im zweiten Schritt in der nigerianischen Community in Wien recherchiert und dort mit vielen Leuten über alles Mögliche geredet.

Am meisten gelernt hat sie bei der Recherchereise nach Benin City, wo die meisten Frauen herkommen: „Dort habe ich meinen Horizont um den gesellschaftlichen Kontext erweitert. Aus welcher Perspektiv- und Ausweglosigkeit das entsteht, welche Verpflichtungen daran hängen und warum ehemals Ausgebeutete selbst zu Ausbeuterinnen werden.“ Tatsächlich ist das Trafficking fest in weiblicher Hand. Männer sind Kunden, Chauffeure oder Schläger. Auch Juju-Priester, Krampus oder falsche Freunde. Aber das Geld bekommt die „Madame“, das weibliche Äquivalent eines Zuhälters. „Eine moralische Entscheidung kann sich nur leisten, wer die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten hat. Wir haben keine Ahnung, was für ein privilegiertes Leben wir hier in Europa führen“, urteilt sie trocken.

Nach der Reise hat sie sich zugetraut, den Film zu machen – mit den richtigen Darstellerinnen. Das Casting war also ein Knackpunkt: „Ich habe gedacht, es kommt keiner. Oder sie gehen, sobald sie hören worum es geht. Das Gegenteil war der Fall. Die Community hat mich sehr unterstützt und viele Nigerianerinnen haben mich ermutigt, diesen Film zu machen. Ich habe noch mehr offene und bereichernde Gespräche geführt“. So destillierte sie aus vielen Lebensgeschichten ein authentisches Bild. Sudabeh Mortezai zeigt ohne Voyeurismus schlimme Dinge, ohne die Ausgebeuteten noch einmal auszubeuten.

© Filmladen

Als der Cast feststand, war der Filmdreh für sie wie ein Flow. Für ihre Darstellerinnen brachte jedoch jeder Drehtag Überraschungen. Denn obwohl Sudabeh ein Drehbuch hat, zeigt sie es den Schauspielerinnen vorab nicht: „Ich drehe chronologisch, also eine Szene nach der anderen. Am Set bespreche ich, was in der kommenden Szene passiert. Im Vorfeld reden wir viel über die Charaktere, deren Beziehungen. Ich reagiere auf Ängste, Zweifel, Sorgen und beantworte Fragen. Die Dialoge sind dann aber improvisiert“. So werden die Darstellerinnen zu Koautorinnen.

Sudabeh liebt diese Art zu arbeiten: „Es ist hilfreich, weil sich die Charaktere zeitgleich mit der Handlung entwickeln. Die Darstellerinnen reagieren authentisch auf die Situation und es wird nichts vorweggenommen. Das Leben hat ja auch kein Drehbuch.“ Tatsächlich wurden im Schnitt nur ein paar Szenen im letzten Viertel des Films etwas umgestellt. Dem großen Raum für Improvisation steht eine penible Ausstattung gegenüber: „Ein authentisches Setting ist mir sehr wichtig.“ In dem Kellerlokal, das als Film-WG dient, hat Julia Libiseller sehr präzise gearbeitet: von der Tagesdecke über Haarteile und Schminksachen bis zu den Gewürzen in der Küche.

„Das macht etwas mit den Frauen, die dort spielen. Sie können den Drehort als ihren Raum annehmen“, ist die Regisseurin überzeugt. Intensive Beziehungsarbeit und eine vertrauensvolle Atmosphäre gehören für eine gelungene Teamarbeit dazu: „Wenn ich auf den Tisch haue, kriege ich auch nicht, was ich brauche. Es ist angenehmer, weil man ja Tag und Nacht miteinander verbringt. Gemeinsam haben wir dieses harte Thema ausgehalten und dabei viel gelacht.“ Denn Sudabeh, – das  zeigt sich im Interview – lacht wirklich gerne und viel. Sie glüht förmlich um ihren positiven Kern. Aber in ihrem Film lässt sie jede Gelegenheit für ein Happy End verstreichen. Sie hätte es sich, den Frauen und den ZuseherInnen gewünscht, „aber das wäre Heuchelei gewesen.“

© Filmladen

Während Sudabeh als Kleinkind noch Schriftstellerin werden wollte, stand bei der Matura der Berufswunsch Filmemacherin fest. Bis zu ihrem ersten eigenen Film sollte es aber noch bis 2006 dauern. Sie war nie weit weg vom Film, hat ihn mit Studium (Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Uni Wien) und Arbeit (z.B. bei der Viennale und als Leiterin des Filmcasino) quasi in immer engeren Kreisen umrundet. Nach drei Jahren Studium in Los Angeles wagte sie 2003 den Sprung zum Tun: „Ich habe es mir zugetraut, aber mich lange nicht zu machen getraut. Auch gab es noch keine digitale Revolution, als ich maturiert habe. Filme machen war damals analog und teuer. Vielleicht hat mich der amerikanische Zugang 'egal woher du kommst, du darfst alles probieren’ letztlich motiviert.“ Durch ihren ersten Film „Children of the Prophet“, lernte sie Oliver Neumann kennen. Mit ihm und weiteren Gleichgesinnten gründete sie 2007 die Produktionsfirma Freibeuter Film.

„Kein Film ist fertig, solange ihn nicht andere gesehen haben. Auf den Festivals habe ich schon bemerkt, dass es im Anschluss viel Redebedarf gibt. Ich mute meinem Publikum viel zu.“ Also wird es rund um die Filmvorführungen immer wieder Diskussionsveranstaltungen geben, an denen sie teilnimmt. Zum Kinostart kann sie JOY langsam loslassen. Sudabeh freut sich jetzt darauf, einen neuen Stoff zu suchen. Oder sich finden zu lassen: „In den nächsten Monaten ist wieder Platz für Neues. Das ist ein Geschenk. Klingt kitschig, aber ich bin dankbar für das Leben als Künstlerin.“

Ich habe nachgesehen: Dein Name kommt von Sudabeh, der Tochter des Königs von Hamaweran. Sie wird als scharfzüngige Schönheit beschrieben. Die Frauen im Film heißen auch in Wirklichkeit Joy, Hope oder Precious. Was hat es damit auf sich? Ich kenne auch Mutter und Tochter namens Success und Progress. Das sind sehr beliebte nigerianische Vornamen, wobei da die besten Wünsche mitschwingen. Der Name als gutes Omen für das Leben der Trägerin.

Wie dein Film zeigt, erfüllen sich nicht alle Hoffnungen und Wünsche mit der Reise nach Wien. In deinem vorigen Film „Macondo“ spielt ein tschetschenischer Bub die Hauptrolle. Auch du hast eine Migrationsgeschichte. Wie bist du nach Wien gekommen? Meine Eltern haben in Deutschland studiert und sind nach Teheran zurück gegangen, als ich noch ein Baby war. Ich habe dort die deutsche Schule besucht und bin 1980, mit zwölf Jahren, nach Wien gekommen. Das war nach der Revolution. Es war schon einschneidend, aber keine dramatische Flucht. Ich bin meinen Eltern dankbar für ihre Weitsicht. Dass sie mit uns gegangen sind, bevor es unmöglich oder unerträglich wurde.

Deine ersten beiden Filme hast du im Iran gedreht. Warum? Das war naheliegend, weil es mir kulturell nahe ist. Ich konnte zudem etwas mitbringen, was man in Österreich nicht so kennt. Ich habe wirklich viel erlebt, viele positive Erfahrungen gemacht und gelernt, mich durchzusetzen. Das muss man ja als Regisseurin.

Was gibt es nur hier in Wien? Ich kann ganz gut vergleichen, da ich an vielen Plätzen auf der Welt gelebt habe: Paris, Los Angeles, Teheran. Ich bin auch viel gereist. Als Teenager wollte ich weg von hier, aus der grauen und feindseligen Stadt. Seit ich aus L.A. zurück bin, finde ich Wien großartig. Es ist sehr bunt geworden. Ich liebe Wien! Es ist groß genug, aber man kommt überall gut hin. Der öffentliche Verkehr ist toll. Es ist eine der sichersten Großstädte der Welt – ich verstehe die ganze Panikmache überhaupt nicht.

Dein Wiener Lieblingswort? Hawara.

Dein Lieblingsort in Wien? Ich bin eine Lokalpatriotin. Ich habe in Wien schon in vielen Ecken gelebt und wohne seit dreieinhalb Jahren in der Nähe vom Meiselmarkt. Der 15. Bezirk ist super. Hier gibt es alle Sorten von Menschen, eine gute die Stimmung, Vielfalt, eine echt gute Mischung. Die U3 ist meine Lieblings-U-Bahn . Ich gehe auch wahnsinnig gerne im Wiener Wald spazieren.

Könntest du deine Arbeit überall machen? Wahrscheinlich. Aber ich möchte in Wien leben. Projekte führen einen woanders hin. Ich schätze die Lebensqualität und brauche diese Ruhe trotz Großstadtflair. Ich mag nicht mehr in London oder New York leben – da ist mir zu viel Input. Wien hat alles und raubt dir nicht die Energie. Ich kann entspannen und mich besser konzentrieren. Das brauche ich für meine Arbeit.

Hast du einen Buchtipp für uns? Ich bin ein Riesenfan von Margaret Atwood. "The Handmaids Tale" kennen als Serie heute viele. Ich empfehle aber „Oryx & Crake“.

Dich nach Lieblingsfilm oder FilmemacherIn zu fragen, ist blöd. Hast du ein Lieblingskino? Das Filmcasino ist wunderschön, aber ich liebe das Gartenbaukino auch sehr. Ich komme aus einer Familie von Cinephilen. Mein Oma hat mir ihr Staralbum mit Fotos von Tyrone Power, Shirley McLane und Hedy Lamarr vermacht – im Krokoleder-Einband. Das ist ein Heiligtum für mich. Es gibt viele Filmemacher, die ich schätze. Das verändert sich aber im Lauf des Lebens. Als Teenager habe ich wahrscheinlich zwanzig Mal „Flashdance“ gesehen, aber auch Filme von Pier Paolo Pasolini und Luis Buñuel haben mich beeindruckt. Ich verehre Steve Mc Queen. „Widows“ habe ich noch nicht gesehen. „12 Years A Slave“ war toll. Auch „Hunger“ ist mir total unter die Haut gegangen.

Deine Botschaft für Wien? Es geht uns so gut hier! Es ist so schön hier! Machen wir das nicht kaputt, indem wir Unterschiede betonen und uns auseinanderdividieren lassen.


Filmladen

 

Filmografie Sudabeh Mortezai:

Children of the Prophet (2006)
Im Bazar der Geschlechter (2010)
Macondo (2014)
Joy (2018)

 

Astrid ist Wienerin, Working Mum, Wählerin, wählerisch, mag Menschen, Worte und Wale.

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