Name: Peter Payer, geboren 1962 im Industrieviertel (NÖ), lebt in Wien Leopoldstadt und Küb am Semmering und arbeitet als Historiker, Stadtforscher und Publizist.
Ganz am Ende unseres Treffens verrät uns Peter Payer, was ihn zu seiner Arbeit motiviert: „Ich liebe Wien“. Diesen Eindruck vermittelt er jedoch schon nach ein paar Minuten im Gespräch, zu dem er MadameWien im Augarten trifft. Ein Lieblingsplatz, den er schon rund 40 Jahre nutzt, beobachtet und auch bearbeitet hat. Als er aus dem südlichen Niederösterreich zum Studium nach Wien zog, ließ er sich in der Brigittenau nieder. Nahe am Augarten, der damals ein verwunschener Garten war.
15 Jahre lang arbeitete er in der Gebietsbetreuung im 20. Bezirk: „Mein Job waren kulturelle Veranstaltungen, andere haben Grünraum, Verkehr, Lebensqualität, Raumordnung als Schwerpunkt gehabt. Es war sehr interessant, weil man bei dieser Basisarbeit viel lernt und Menschen aus aller Herren Länder kennenlernt. Da weiß man, für wen man das macht und bekommt ein Gefühl, wer hier lebt.“ Er studierte Stadtforschung am Institut für Geographie, wählte im Zweitstudium Geschichte und gab sich einen Drall in Richtung kulturwissenschaftlicher Forschung. „Das ist genau mein Zugang zu Stadt. Ich war sicher einer der ersten, der Wien in dieser Art beforscht, begangen und neugierig befragt hat.“
Alltagsgeschichte von der Grätzel-Ebene bis zur Kuration des Bereiches im Technischen Museum Wien hat ihn immer besonders fasziniert, „weil ich da die größten Leerstellen ausgemacht habe. Ich schaue sehr gerne dort hin, wo noch niemand hingeschaut hat“. Er nimmt sich das 19. und 20. Jahrhundert zur Brust. Als Kind einer Arbeiterfamilie befasste er sich mit Industriegeschichte und wie sie das Leben der eigenen Vorfahren und auch ihn selbst geprägt hat. Und ihm wurde klar, wie die Verbindungslinien zum heute laufen. Was es nicht mehr gibt, ist interessant, aber was das Vergangene mit dem Heutigen zu tun hat, ist ihm noch wichtiger.
Wir wollen mit dem Stadtforscher klären, ob Wien ohne Touristenmassen und deren eingespielten Vorstellungen von der Stadt die Chance hat, ihr Bild zu modifizieren? Oder passen die Klischees von Wien? Warum muss Wien alles haben, was andere Städte auch haben: Fiakerautos, Yellow Bus, Big Bus statt Ring-Bim? Warum kann Wien nicht wieder anders sein? Letztlich auch aus Klimaschutzgründen. „Das ist eine schöne Vorstellung. In der Realität funktioniert es nicht, weil die Stadt zu groß ist und auf mehreren Ebenen funktionieren muss. Sie muss großen Trends, wie es auch Touristifizierung ist, folgen. Im Guten wie im Schlechten“, antwortet der Stadtforscher ad hoc.
Wien kann sich also diesem Wirtschaftsfaktor nicht verschließen, das sei eine Imagefrage. Er selbst ist jemand „,dem ein nebeneinander besser gefällt, als ein entweder oder“. Zweiter Versuch: Wien nur für WienerInnen will keiner, aber was gibt es nur in Wien, wofür sollte es noch weltberühmt sein sollte? Payer: „Es ist meine Lebensaufgabe, genau das zu erforschen und sichtbar zu machen. Klischees sind einfach wirkungsstarke Bilder und wenn es ein Angebot gibt, wird es auch genutzt.“
Die Diskussion zum Schlagwort Overtourism beginnt hier gerade, „das Bewusstsein wächst und wir bewegen uns nahe den Grenzen, was gut ist. Der Leidensdruck ist noch nicht so hoch“. Gleichzeitig warnt er davor, dass ein Vorteil in einen Nachteil kippen kann. Die schöne Gegend, die schöne Landschaft wird nicht mehr besucht, weil sie durch ein Zuviel übernutzt und unattraktiv wird. Das wieder zu ändern ist schwierig. Es gilt den Kollaps zu verhindern. „Auf einer Tagung in Kitzbühel wurde neulich von ForscherInnen das Verhältnis von Stadt und Tourismus beleuchtet. Der Tagungsband könnte eine interessante Lektüre für Verantwortliche sein", schildert er. Er selbst arbeitet viel für die Stadt, wird aber nur selten als Berater gefragt: „Die haben eh gute Leute bei der Planung in der Stadt Wien. Vom Trend her bin ich optimistisch“.
Und dann wird er kurz politisch mit einer eigenen Vision: „Wien würde es gut anstehen, aus dem mächtigen Bild des Roten Wien im 21. Jahrhundert ein Grünes Wien zu machen. Und das ist nicht (nur) parteipolitisch gemeint“. Veränderung ist schmerzhaft, aber Peter Payer hat gerne die Historizität der Dinge im Auge: „Ich habe oft meine Meinung zu Themen revidiert. Es fühlt sich zu Beginn, währenddessen und danach anders an. Das ist einfach ein Prozess. Man muss den Dingen die Zeit geben, wirken zu dürfen, die Menschen müssen sie erleben und mit allen Sinnen spüren“.
Weil wir schon bei der Ring-Tram waren, machen wir im Gespräch gleich mit der Fortbewegung in der Stadt weiter. Hermann Knoflacher sagte kürzlich in einem Interview im Falter, dass Wien im Kern aus seiner Geschichte eine Fußgeher- und Straßenbahn-DNA ist. Die Schönheit alter Städte komme daher, dass sie fußläufige Lebensräume waren. Dazwischen kam der Trend einer autogerechten Stadt, der Wien nicht verschonte. Peter Payer kann dem nur zustimmen.
Er sieht heute allerdings schon so etwas wie einen "Mythos des Flanierens". Für ihn ist die Hauptsache, man tut es. Jeder Anlass sich zu bewegen, sei gut: „Es kann auch eine Masche werden. Auch hier gilt für mich sowohl, als auch. Das Nebeneinander.“ Aus seiner Sicht müssen Autos nicht völlig verschwinden. Es braucht vielmehr einen guten Mix und Prioritäten. In gewissem Sinne ist es dann ein Macht- und Verteilungskampf, weil einfach der Raum beschränkt ist. Wir haben verlernt, aufeinander Rücksicht zu nehmen. In den neuen Begegnungszonen können wir das wieder erlernen. Wobei das für alle gilt: die E-Scooter-FahrerInnen, RadfahrerInnen müssen es lernen, die im Auto, aber auch FußgängerInnen.
Vom Thema Verkehr und Rücksicht biegen wir im Gespräch direkt ab zum Stadtmenschen an sich. Das Verhalten von Stadt- und LandbewohnerInnen unterscheidet sich, weil in der Stadt viele Menschen wohnen: „Ich muss mich anders verhalten, weil ich im Regelfall von vielen Menschen umgeben bin. Das ist ein langer, disziplinatorischer, selbstreflektierender Prozess, der uns zu Stadtmenschen gemacht hat.“ Der gebürtige Niederösterreicher hat sich auch verändert und ist ein Stadtmensch geworden: „Der Prozess ist nie zu Ende. Er verändert uns auch innerlich im Denken und Fühlen. Die Digitalisierung programmiert uns zudem auf allen Ebenen völlig neu.“ Die Diskussion darüber möchte er nicht missen.
Im Idealfall ist der Stadtmensch ein rücksichtsvoller Massenmensch, der sich darüber bewusst ist, dass es um ihn viele andere Menschen gibt. „Der Stadtmensch ist eine eigene Spezies, die alle einströmenden Reize verarbeiten muss. Es sind immer mehr Signale geworden auf allen Ebenen, aber Stadtmenschen lernen sich zu orientieren.“ Es gibt aber doch Dinge, von denen Peter Payer deutlich weniger bräuchte: visuelle Reize durch Werbung und E-Scooter. Zum Glück hat Wien Platz. Denn es war um 1900 eine Zwei-Millionen-Stadt und wächst sich gerade wieder dorthin. Das bietet Potenzial für die Zukunft. Und für ihn als Forscher gibt die Stadt „sehr viel her. Wien hat eine vielfältige, komplexe Geschichte mitgenommen, in Metropolendimension. Es war eine europäische Drehscheibe und das spürt man heute noch“.
Muss die Identität einer Stadt immer aus der Geschichte abgeleitet werden? K&K, Rotes Wien oder gibt es auch neuere Strömungen? Ich trenne das nicht. Geschichte ist nicht vergangen, sie sitzt immer mit am Tisch. Wir Menschen haben keine andere Möglichkeit als zu werden, aus dem, was in uns angelegt ist. Ich sehe auch andere Entwicklungslinien, aber man kann Geschichte nicht abschneiden. Sie ist da und wirkt auf uns wie das kaiserliche Branding der Innenstadt. Es gibt auch viel vorzeigbare neue Architektur. Geschichte geht ins Jetzt über. Was einen Platz in der Stadt bekommt, wirkt auf uns. Ein reizvolles, komplexes Nebeneinander.
Was gibt es nur in Wien? Es gibt zum Beispiel noch eine gute Kino-Infrastruktur, relativ differenziert, eine relative Vielfalt, die in anderen Städten schon verschwunden ist. Das ist bemerkenswert. Dem Bellaria Kino weine ich übrigens gar nicht so sehr eine Träne nach. Denn obwohl ich Historiker bin oder gerade weil ich einer bin, weiß ich, dass Dinge gehen und sich nicht alles bewahren lässt. Auch im Museum können wir nicht alles bewahren. Man muss die Dinge auch sich verändern lassen können und Platz für neue Entwicklungen bieten.
Wie klingt Wien? Sie haben ja das Buch Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens 1850 bis 1914 geschrieben? Das kann ich so pauschal nicht beantworten. Wien klingt wie alle anderen Zwei-Millionen-Städte heutzutage nach motorisiertem Verkehr. Der Klang der Pummerin etwa, die riesige Stadtglocke, das wäre für mich schon ein typisches Wien-Geräusch. Wenn man es öfter hört, erkennt man das tiefe mächtige Schwingen, das durch den Körper durchgeht. Diesen Sound gibt es nur in Wien und er ertönt nur zu ausgewählten Anlässen.
Ein Wiener Lieblingswort? Die Mélange, also eine Mischung, auch weil das Wort sich so schön zieht.
Was ist Ihre Botschaft für Wien? Ich wünsche mir, dass die Vielfalt und gute Komplexität von Wien wahrgenommen und daran weiter gearbeitet wird. Es ist - noch - ein sehr bewusstes Miteinander. Mein persönlicher Wunsch ist, dass wir bewusst als Stadtmenschen agieren, mit allen Rechten und Pflichten. Dass wir links und rechts schauen in jedem Sinn.
Astrid ist Wienerin, Working Mum, Wählerin, wählerisch, mag Menschen, Worte und Wale.