Zwischen Wiener Grant, Fluch und Zauberspruch

Name: Oksana Havryliv, von Beruf Germanistin mit Spezialgebiet verbale Aggression,
geboren 1971 in Lviv (Lemberg), wohnt seit 2012 in Währing.


„Der Schlag soll dich treffen!“ – funktioniert als Verwünschung in Lviv und Wien. Wer genau hinhört, wird das aus dem Sprechgesang des diesjährigen Songcontest Beitrags der ukrainischen Kalush Orchestra „Шляк би тебе трафив“ / schljak by tebe trafyv heraushören. Solchen Spuren der Habsburgermonarchie kommt eine erfahrene Germanistin wie Oksana Havryliv leicht auf die Spur. Auch den Wiener Schmäh hat die Forscherin mit Spezialgebiet verbale Aggression schon vor Jahren verstanden, weil sie diese höflich-unhöflichen Umgangsformen aus ihrer Heimat in Reinkultur kennt.

Wer mit ihr ins Gespräch kommt, lernt eine freundliche Frau mit dunklen Locken kennen, die gerne lacht und auf ihren Spaziergängen im Türkenschanzpark geduldig auf das perfekte Naturfoto von Reihern, Fröschen und Eichkätzchen wartet. Parallel dazu beherrscht sie auch eine ungeheure Menge Kraftausdrücke, deftige Schimpfworte und Verwünschungen. Ihr Sohn, so offenbarte sie einmal in einem Falter-Interview, hat „ihr“ Schimpfwort in die magische Sphäre überführt und kurzerhand in einen Zauberspruch zum Öffnen klemmender Türschlösser umgedeutet: „Oma, du musst drei Mal laut Sch*** sagen, dann klappt das!".

Oksana Havryliv reist zwischen den Welten. Als Schlüssel dafür erkor sie sich als Jugendliche, aufgewachsen in der Sowjetunion, die Sprache Deutsch: „Meine Mutter arbeitete in einem Souvenirladen bei der Oper in Lemberg, wo immer viele Tourist:innen waren - vielleicht hat auch das meine Reiselust geweckt.“ Seither verfolgt sie sprachliche Spuren der Zeit von „Oma Österreich“, wie die k. u. k. Monarchie in der deutschsprachigen Ukraine genannt wird. Im heutigen Österreich interessiert sie die Sprache der Jugend und der Großeltern, das Dampf ablassen und der sorgfältige Umgang mit beleidigenden Worten. „Was machen Sie so beruflich?“ fragt man beim Smalltalk, aber wie wird ihre Antwort quittiert? „Da kommt immer ein Lacher. Das ist typisch. Oder Erstaunen."

Die erste Frage ist immer, ob ich selber viel schimpfe. Das Thema wird eher nicht als seriös wahrgenommen.“ Diese Reaktion hat sie letztlich zur Wissenschaftskommunikation geführt, „weil ich den praktischen Nutzen meiner Arbeit vermitteln möchte“. Oksana hat zudem drei Bücher geschrieben. Ausführlicher und mit allen deftigen Details sind ‘die Roten‘ mit dem schönen Titel: „Pejorative Lexik: Untersuchungen zu ihrem semantischen und kommunikativ-pragmatischen Aspekt am Beispiel moderner deutschsprachiger, besonders österreichischer Literatur“ und „Verbale Aggression: Formen und Funktionen am Beispiel des Wienerischen“. Ihre Wiener Vorlesung hat sie in ‘das Rosane', das sie mit 'Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz: Funktionenvielfalt am Beispiel des Wienerischen' titelt, verpackt. Auch dieses ist randvoll mit Erkenntnissen aus dem Schimpfforschung für einen breiten Leser:innenkreis.

Ganz kurz seien die wichtigsten Funktionen des Schimpfens, erhoben in Umfragen, aufgezählt. Am wichtigsten ist die kathartische Funktion (74%), also das Abreagieren und Angst bewältigen. Den scherzhaften Gebrauch von Schimpfwörtern geben 15% der Befragten als Grund an. Jemanden beleidigen liegt weit abgeschlagen an dritter Stelle der Motive (mit 11%). Dass verbale Aggression jedenfalls ein ernsthaftes Thema und ein bewegtes Forschungsgebiet ist, zeigt ihre Karriere, für die sie mehrfach beim hoch kompetitiven Wissenschaftsfonds Mittel einwarb.

Ob Corona oder der russische Krieg in der Ukraine, eine Messerstecherei in einer Schule oder alltägliche Konflikte in der Familie: verbale Aggression ist überall und Sprache nur vermeintlich aggressionsfrei. „Hätten wir die Sprache, bräuchten wir Waffen nicht“, formulierte Ingeborg Bachmann. Aber verbale und physische Aggression hängen zusammen, beschreibt Oksana Havryliv: „Sprache ist ein Medium und damit können wir alles tun: trösten, verletzen, physische Gewalt einleiten, wie es die russische Propaganda viele Jahre vor dem Krieg aktuell schon gemacht hat. Mit Gerüchten und falschen Fakten wurde der Boden aufbereitet wie bei den Balkankriegen oder auch im Nationalsozialismus.“

Verbale Gewalt funktioniert also auch mit neutralen Worten, etwa durch die Verbreitung von Gerüchten, das Brechen von Versprechen oder Verhandlungen, bei denen parallel schon angegriffen wird. Als sie am 24. Februar schlafen ging, hatte sie kurz vorher einen Beitrag fertiggestellt, der die Corona-Pandemie als Ereignis mit starken Auswirkungen auf die Sprache analysierte („Coronerisch: Das Wienerische im pandemiegeprägten Alltag“ gefördert von der MA7 der Stadt Wien). Als sie am nächsten Morgen aufwachte, quollen soziale Medien über vor verbaler Aggression. Aktuell sorgt sie sich um ihre Eltern, die noch in der Westukraine leben, und analysiert parallel, wie sich Krieg in der schlagartigen Verrohung der Sprache niederschlägt.

In einem Projekt arbeitete sie gemeinsam mit Schüler:innen zum Thema 'Verbale Aggression im Sozialfeld Schule: Ursachen Formen und Gewaltprävention' und verursachte so einige Aha-Erlebnisse: „Das Verständnis und die Reflexion darüber, wie ich an meiner Sprache arbeiten kann, finde ich sehr wichtig.“ Warum schimpfen wir, was wollen wir damit erreichen? Und wie können wir unseren Wortschatz modifizieren, um Menschen nicht zu beleidigen (z.B. mit dem sonst allgegenwärtigen „das ist/du bist behindert“)? Inzwischen hält sie ein Seminar für Masterstudierende im Lehramt, in dem sie die Projektergebnisse vermittelt. Interkulturelle Besonderheiten führen nicht selten zu Missverständnissen, denn „in der mobilen Welt gibt es keine Trennlinien mehr zwischen den vier Schimpfkulturen“. Eine vermeintliche Ehrenbeleidigung kann eskalieren, weil eben gerade die Jugendkultur globalisiert ist und Elemente aus allen Kulturkreisen aufgreift und durchmischt.

Die Fachfrau unterscheidet die sexuelle, die fäkal-anale und die sakrale Kultur sowie die Verwandten-/Familienbeleidigung. Ein Klassiker ist die rituelle Mutterbeleidigung, also alle Variationen rund um „deine Mutter“. In slawischen Sprachen wird diese Redewendung auch „desemantisiert“ gebraucht, also als Pausenfüller oder belangloses Schimpfwort, sogar und auch von Frauen. In Wiener Schulen werfen sich diese Beschimpfungen bevorzugt Burschen an den Kopf und wenn man es wie Marko Arnautovic weiter ausführt, gibt es Ärger.

Oksana Havryliv genießt es, dass ihre Publikationen zu Jugendsprache Titel wie „Fuck Oida“ tragen dürfen. Zudem plant sie, auch mit der Großelterngeneration bei Erinnerungsabenden im Altersheim zu arbeiten. Hier interessiert sie: Welche Wörter verschwinden? Wie wurde früher geschimpft?

Bis zu einem Schüleraustausch 1986 in die DDR wollte Oksana Havryliv noch Sängerin werden. Sie spielte in einer Mädchenkapelle die Bandura, wie sie auch der Denkmal-Kosake im Türkenschanzpark auf der Schulter trägt: „Ich glaubte damals fest daran, mich glücklich schätzen zu dürfen, dass ich in der Sowjetunion geboren wurde, weil die Menschen in den tristen, grauen, kapitalistischen Ländern ausgebeutet würden. Dann stiegen wir auf den Alexanderturm und neben Ostberlin war auch das neonerleuchtete, funkelnde Westberlin zu sehen. Da kamen mir erste Zweifel. Ich dachte, es kann nicht so schlimm sein, wenn es so bunt ist.“ Sie kehrte mit rosa geblümten Schuhen zurück, denn in der Sowjetunion gab es nur praktische Farben zu kaufen. Der neue Plan war, Deutsch zu studieren und als Reiseführerin in allen sozialistischen Ländern unterwegs zu sein. Die Sprache als Berechtigung zum Reisen führte sie auch entlang des Sendersuchlaufs am Weltempfänger, mit dem sie etwas Polnisch, Slowakisch und Tschechisch verstehen lernte. Da waren Dresden, Leipzig und Warschau eingezeichnet und an den entgegengesetzten Enden auch Helsinki und Wien, die für sie damals unerreichbar erschienen. „Es hat mich umgehauen, als mein Vater mir gesagt hat, dass Wien näher an meiner Heimat ist als Moskau. Geografische und politische Entfernungen unterscheiden sich eben.“

1993 wurde Oksana mit dem Studium fertig. Ab 1992 gab es an in Lviv eine Außenstelle des Ost- und Südosteuropa Instituts und eine Österreich-Bibliothek, wo sie bis 1996 arbeitete und ein paar Kontakte nach Wien knüpfte. 1994 kam sie mit dem ÖAD, für den sie heute als Wissenschaftsbotschafterin für Young Science tätig ist, erstmals in die Stadt und „wurde auf hohem Niveau empfangen. Ich war untergebracht im Schützengebäude von Otto Wagner am Donaukanal, damals ein Gästehaus des Bundesamts für Vermessungswesen. „Ein Chauffeur holte mich ab und fuhr mich dort hin. Das Zimmer war spartanisch, aber die Terrasse und der Ausblick gehörten quasi mir allein, unvergeßlich.“

Den ersten Ausflug in die Innenstadt hat sie als multisensorisches Erlebnis in Erinnerung: In der Parfumerie Douglas auf der Rotenturmstraße sprühte ihr die Verkäuferin „Dune“ von Christian Dior zur Probe auf, sie ging weiter über den Graben und den Stephansplatz, wo sich der Geruch nach Pferdeäpfeln und Pferdedurin dazu mischte. „Für mich wird das immer der Geruch von Eleganz bleiben. Feine, parfümierte Damen in Stöckelschuhen steigen in der Wiener Innenstadt über die Hinterlassenschaften von Pferden – das hat mich überrascht. Und dann hat mich überrascht, dass die Leute nicht überrascht sind“, sagt sie lachend. Seit 2012 lebt sie ständig in Wien und kann sich an den Moment gut erinnern, als sie wahrhaft aufgenommen wurde. Es war bei einer Feier ihres Sohnes im Kindergarten, als ihr die Kindergartenpädagogin mit den Worten „geben’s her“ und einem leichten Zucken der Mundwinkel den Kuchen aus der Hand nahm. „Nach Monaten distanzierter höflicher Kommunikation war ich glücklich über die Akzeptanz, mein Mann (Anm.: Der Schriftsteller Tymofij Hawryliw) war schockiert. Er kommt mit der deutschen Direktheit besser klar, er versteht den Schmäh nicht.“

Was ist denn das Wesen des Wiener Schmäh und des Wiener Grants, fragen wir den Profi. Für sie ist das Grantige in Wien die Kehrseite des Wiener Schmäh: „Ich nenne den Schmäh einen urbanen, scherzhaften Kommunikationsstil. Meiner Meinung nach kultivieren die Wiener:innen dieses Stereotyp. Sie sind nicht so grantig, wie man ihnen zuschreibt, aber sie wollen mitspielen. Wenn in der Umfrage der unfreundlichsten Städte Paris auf Platz eins und Wien auf Platz zwei liegt, ist das eine Konkurrenz.“ Auch aus ihrer Familie kennt sie diese ruppige Art, die eine große Liebe verschleiert. In der Unhöflichkeit steckt die Höflichkeit. Es ist wohl „eine Strategie in den Ländern des ehemaligen Vielvölkerstaats, unter dem Deckmantel des Scherzhaften ernsthafte Probleme anzusprechen. Auch die Einflüsse aus der jüdischen Kultur sind hier noch stark“.

Was ist Ihr Wiener Lieblingswort? Mein erstes Lieblingswort war Erdäpfel. Dann gibt es im Deutschen viele Worte für Pedant:innen. Mein Liebling ist „i-Tüpferl-Reiter“. Im Ukrainischen gibt es mehrere Wörter für korrupte Personen.

Und was ist Ihr Lieblingsschimpfwort? Ich mag Ersatzaufforderungen wie 'Hab mich gern', oder erweiterte wie 'Geh in Oasch', 'in Himmel kummst eh ned' oder 'Hupf in Gatsch und schlag a Wöhn'. Und auch die scherzhaften Verwünschungen wie 'Alle Zähne sollen dir ausfallen bis auf einen, damit du weißt was Schmerzen sind', 'Ich wünsche dir Krätze am Arsch und Arme zu kurz zum Kratzen' oder '100 Jahre sollst du alt werden ... sofort'. Die Lehnübersetzungen aus dem Jiddischen, das auf diesem Gebiet geradezu poetisch ist, sind in vielen Sprachen zu finden.

Was machen Sie gerne in Ihrer Freizeit? Ich gehe mit meinen Nordic Walking Stöcken Runden im Türkenschanzpark und im Pötzleinsdorfer Schloßpark und denke im Gehen nach. Zudem habe ich immer eine kleine Digitalkamera dabei und warte, ganz losgelöst, auf einen lohnenden Moment, wo der Reiher auffliegt, oder Frösche und Eichkätzchen etwas tun. Das beruhigt mich, ich bin da wie in einem Tagtraum, komme in eine andere Realität. Vergesse meine pubertierenden Buben und alles verschwindet bis auf den Moment

Wo gehen Sie gerne einkaufen? Das macht mein Mann, aber ich koche gerne und betreibe einen ukrainischen Kochblog auf facebook. 'Die Küche von Oma Österreich', also jene Zeit, da die Westukraine zu Österreich und Ungarn gehörte. Darin verwebe ich Rezepte und Geschichten, Österreichisches Deutsch, Küche und Lebensstil wie die Krautfleckerl von Tante Jolesch oder Wiener Bälle und Gulaschsuppe.

Wie würden Sie den Wiener Schmäh touristisch nutzen? Es ist eine Form von Gastfreundlichkeit: die betonte Ruppigkeit ist eben kein Einschleimen, sondern so wird einem hier die Höflichkeit erwiesen. Um diese spezifische Wiener Atmosphäre zu suggerieren, wird z.B. der Wiener Schmäh von Wiener Kellner:nnen im Umgang mit Gästen geführt.


 

Buchtipp:

Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz.
Funktionenvielfalt am Beispiel des Wienerischen

von Oksana Havryliv
Picus 2022
14 Euro

Astrid ist Wienerin, Working Mum, Wählerin, wählerisch, mag Menschen, Worte und Wale.

Nini schreibt, fotografiert und bloggt digital.
Mag aber auch analog noch immer.

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