700 Seiten Briefwechsel von zwei Menschen aus den Jahren 1910 und 1911, die seit mehr als 50 Jahren tot sind – auf den ersten Blick eine Überwindung für MadameWien. Aber der schriftliche Austausch des jungen Walter Gropius mit der damals verheirateten und dann verwitweten Alma Mahler geht wie im Rausch um.
Die Begleittexte, das Vorwort, die Tabellen lassen die detektivische und wissenschaftliche Feinarbeit durchblitzen, die für dieses Werk im Vorfeld notwendig war. Alma Mahlers Briefe hat Walter Gropius alle aufgehoben und nummeriert. Seine Witwe hat sie an das Bauhaus Archiv übergeben.
Alma Mahler hat die Briefe ihres Galan vernichtet. Sein Sehnen, seine Perspektive wird mit Entwürfen und Skizzen für Briefe an die Angebetete bestritten.
Meine Sehnsucht nach Dir und Deiner Liebe ist übergroß: Fühlsucht sollte sie heißen. (WG)
Das Schreiben hielt Gropius nicht für seine starke Seite, weshalb er seine Post gerne vorbereitete. Manchmal dauerte es sehr lange, bis Antwort kam. Bis dahin hatte Walter viel Zeit, sich in Spekulationen und Stimmungswechseln zu ergehen. Die Einschränkungen der Zeit mit teilweise langen Postläufen (bis nach New York) und dem notwendigen Versteckspiel mit viel p(oste) r(estante) – machten eine andere Kommunikation notwendig, als heute mit ‚always on‘ und ‚instant messaging‘. Sich vielfach der gegenseitigen und andauernden Liebe, Offenheit und Sehnsucht versichern. Der passende Soundtrack zum Buch ist wohl Mahlers unvollendete Symphonie Nummer 10, die genau in dieser Zeit entstand. Das Skandalnudel-Image von Alma beruht darauf, dass sie mit einem Haufen begabter Männer des Fin de Siècle ein Verhältnis hatte oder verheiratet war.
Überhaupt ist die „Ehe“ etwas, das überwunden werden muss. (AM)
Doch dieses Buch erhellt sie besser und erweitert das Bild. Alma Mahler, geborene Schindel, spielte Klavier und komponierte – der gute Gustav forderte aber von ihr, das als seine Ehefrau hübsch bleiben zu lassen. Es wird eine junge Frau spürbar, die mit 22 einen 19 Jahre älteren Mann heiratet, der ihre seelischen und körperlichen Bedürfnisse vermutlich nur ungenügend verstand und bediente. Sie bekam zwei Töchter mit Gustav Mahler (*1902 und *1904), von denen die erste 1907 an Diphtherie starb.
Was ist Lebensfreude? Das Erhalten von Illusionen, die wir Wahrheiten nennen und glauben, je stärker wir sind (WG)
Tatsächlich flog die Affäre, die im Juni 1910 begann, sehr bald auf, da Gustav Mahler einen Brief von Gropius in die Finger bekam. Alma schrieb ihre mit lila Tinte, vielen Unterstreichungen, und parfümierte das Papier – das muss man sich dazu denken. Im Mai 1911 starb der Hofoperndirector und gefeierte Komponist nach langer Krankheit an einem Herzleiden. Walter Gropius (zu Beginn der Beziehung 23) hatte seinen Durchbruch als Bauhaus Gründer noch nicht. Er stand am Anfang mit seinen Ideen und Alma Mahler (damals 31) gab ihm Feedback, ermutigte ihn, war ihm Muse, Mentorin und Geliebte. Fotos, Skizzen, Bücher, Bilder, Pläne, Grundrisse, Zeitschriften, Geschenke wurden hin und her geschickt.
Deine Briefe geben mir Spannkraft für den ganzen Tag. (AM)
Die beiden fantasierten über ein gemeinsames Kind. Über lange Zeit hielten sie die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft – wenn auch erst nach Gustavs Tod – am Brennen. Mit raren Treffen. Oft verschobener gemeinsamer Zeit. Der Löwenanteil der Briefe im Buch geht 1910/11 hin und her – dann kühlte das Verhältnis ab. Die selbstbewusste Alma verstand es, die Sache am Köcheln zu halten, ohne sich wirklich zu verpflichten. Sie lebte auf in guter Gesellschaft. Eine Leseratte, vielseitig interessiert, auch eine Antisemitin blitzt durch. Sie war gefühlt stets busy oder krank im Bett und unerschrocken, sich auszuprobieren (etwa später bei der Arbeit im Wiener Vivarium mit Paul Kammerer).
Ich bin durch dich erst Mann geworden. (WG)
Rathen kann einem da niemand, nur das eigene Herz. (AM)
Der Maler Oskar Kokoschka trat 1912 in Almas Leben. Walter und Alma heirateten 1915 doch noch, bekamen eine Tochter, 1918 begann ihre Affäre mit dem Schriftsteller Franz Werfel, den Alma 1929 heiratete. Wie die Ehe mit Gropius zeigte, war die Darreichungsform Brieffreundschaft rückblickend wohl doch die bessere. Die Briefe im Buch aus dem Residenz Verlag reichen bis Juli 1914.
Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass die Arbeit die einzige wirkliche Gottheit unserer Tage ist und daß man ihr in der Kunst zum Ausdruck verhelfen muss. (WG)
Du bist mir Kunst. Der Briefwechsel Alma Mahler – Walter Gropius 1910 bis 1914
herausgegeben von Annemarie Jaeggi und Jörg Rothmann
Residenz Verlag
779 Seiten
49,95 Euro
Astrid ist Wienerin, Working Mum, Wählerin, wählerisch, mag Menschen, Worte und Wale.